Deutschlands Drama – Warum die deutschsprachige Dramatik so einzigartig ist, und nur die wenigsten sich dessen bewusst sind. Ein Essay von Friederike Emmerling

Deutschlands Drama – Warum die deutschsprachige Dramatik so einzigartig ist, und nur die wenigsten sich dessen bewusst sind. Ein Essay von Friederike Emmerling

Nun sag, wie hast du’s mit der zeitgenössischen, deutschsprachigen Dramatik? Gerade jetzt, wo vielerorts die Theater wieder schließen müssen? Friederike Emmerling lädt uns in ihrem Essay dazu ein, über das Potenzial von Dramatik in Krisenzeiten nachzudenken. Über eine mutige Dramatik, die uns im denkbar besten Sinne herausfordert. Dafür bieten unsere Theater die besten Voraussetzungen. Nutzen wir sie.

 

(…) Rein literarisch gesehen kann die deutschsprachige Dramatik aus dem Vollen schöpfen. Mit lustvoller Neugier – frei von streng wirtschaftlichen Zwängen – durchbricht sie sämtliche Gattungsgrenzen. Von der Lyrik übers Essay bis zur Prosa vermischen sich in der Dramatik die Formen des Literarischen. (…) Theater interessieren sich viel zu oft für das noch nicht Geschriebene, die Verheißung des noch Unbekannten, das Spiel mit der Möglichkeit. Uraufführungen versprechen pressewirksame Aufmerksamkeit, wohingegen das Nachspiel selten Aufmerksamkeit erregt. Doch seitdem das Theaterfeuilleton schrumpft, geht auch diese Rechnung kaum noch auf. Es ist gar nicht mehr möglich, von allen Uraufführungen zu berichten. Dem Publikum ist das Label Uraufführung ohnehin relativ egal. Und trotzdem wird ungerne nachgespielt. (…) Die Theater zucken förmlich zurück, wenn sie hören, dass die Uraufführung schon vergeben ist. Dabei wäre das erfolgreiche Nachspiel eine der unaufwendigsten und effektivsten Möglichkeiten zur Unterstützung deutschsprachiger Dramatik. (…) Wie überall geht es auch hier um Nachhaltigkeit und Ressourcenschonung. In dieser Hinsicht macht die Coronazeit Hoffnung. Es sind zarte Pflanzen des Miteinanders unter den Theatern gewachsen, die in dieser Form früher nicht denkbar gewesen wären. Uraufführungen werden geteilt, oder Theater spielen freiwillig nach, um einem anderen Theater die Möglichkeit einer früheren Uraufführung zu lassen. Vor Corona wäre das häufig ein Grund gewesen, das Stück gar nicht mehr auf den Spielplan zu setzen. (…) Es geht nicht mehr nur um die eigene Profilierung, sondern auch um die gemeinsame Sorge für den Fortbestand zeitgenössischer Dramatik. (…) Vielleicht bedeutet diese Entwicklung ja einen Befreiungsschlag im Uraufführungstaumel? Vielleicht spielen in Zukunft viele Theater aufregende Stücke einfach nacheinander, nebeneinander, miteinander? (…) Gerade für die vielfältige Abbildung unterschiedlicher Inszenierungsansätze bietet die deutsche Theaterlandschaft (…) optimale Voraussetzungen. Zeitgenössische Dramatik muss den Nischen entwachsen, um einen inhaltlich-diskursiven Nährboden für das Große und Spektakuläre bieten zu können. Dazu muss sie strapaziert werden und getestet und durch viele Körper an vielen Theatern wandern. Das wird sie groß machen und begehrenswert. (…) Es gibt noch immer zu wenig Bewusstsein für den außergewöhnlichen, unangepassten Reichtum und den avantgardistischen Charme deutschsprachiger Dramatik, für die Vielzahl vibrierender Theaterstücke, die beständig auf der Suche nach Visionen und Rhythmus, Klang, Dissonanz, Humor und Poesie sind, nach schmerzhafter Schönheit und kantiger Klarheit. Es gibt noch immer zu wenig Bewusstsein für deutschsprachige zeitgenössische Dramatik, die nicht einfach, sondern im besten Sinne irritierend ist, die erarbeitet werden muss – und erspielt. Vom Theater. Denn ohne Theater wäre Dramatik obsolet. Und ohne Dramatik bliebe das Theater still. Was diese Stille bedeutet, haben wir 2020/21 erlebt, als die Theater geschlossen blieben. Das Spektrum der Farben im Kopf hat sich verringert. Dabei braucht es Anregungen und Auseinandersetzungen, Impulse, Diskussionen, Radikalität, Provokation und Spielfreude, Lust am Experiment, Tragik, Katharsis und viele, viele Komödien. Weil irgendwann einfach auch wieder laut gelacht werden muss – als Teil eines Publikums, das in der Lage ist, ein einfaches Lachen zu vertausendfachen. Es braucht diese Momente voll flüchtiger Schönheit, um zu verstehen, wie kostbar die lustvolle Verschwendung des Augenblicks ist. Es braucht die Gewissheit, dass Theater vergänglich ist und sich gleichzeitig immer wieder neu erschafft. Es braucht Theater, um zu wissen, dass wir nicht alleine sind. Und es braucht mutige Dramatik, um zu verstehen, dass das geformte Gespräch niemals aufhören darf, uns und unseren Geist im denkbar besten Sinne herauszufordern. Dafür bietet Deutschland die besten Voraussetzungen. Nutzen wir sie.

 

Friederike Emmerling

 

Ausschnitt aus dem Vorwort der Dramatischen Rundschau 03 (FTV 70680) mit Stückabdrucken von Caren Jeß (Die Katze Eleonore), Fiston Mwanza Mujila (Der Garten der Lüste), Yade Yasmin Önder (Die Worte gehören uns), Falk Richter (Pride), Lukas Rietzschel (Widerstand) und Olivia Wenzel (mais in deutschland und anderen galaxien).


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