Lukas Rietzschel

Fremd in der Welt, aus der man stammt – WIDERSTAND von Lukas Rietzschel

©Gerald von Foris / Schauspiel Leipzig

 

Lukas Rietzschel zählt zu den wichtigsten literarischen Stimmen der Nachwende-Generation. Sein neues Theaterstück entstand als Auftragswerk für das Schauspiel Leipzig. FAZ-Feuilletonist Simon Strauß sieht in WIDERSTAND einen „überzeugende[n] Versuch, das Drama in seinen Möglichkeiten der politischen Bildung ernst zu nehmen.” Rietzschels Theaterlektor Oliver Franke zieht sogar Parallelen zum sozialkritisch-realistischen Volksstück. Ein Porträt über Autor und Werk.

 

„Das Parlament hat soeben nicht mehr und nicht weniger als den Untergang der Deutschen Demokratischen Republik zum 3. Oktober 1990 beschlossen“, so der damalige PDS-Vorsitzende Gregor Gysi im August 1990. Damals wurde – ein Jahr nach dem Mauerfall – der Beitritt der DDR zur Bundesrepublik offiziell von der Volkskammer beschlossen und auf den 03. Oktober datiert.

Die Folgen dieser Wiedervereinigung sind noch heute, nach über dreißig Jahren, deutlich spürbar. Über den ewig „Neuen“ Bundesländer prangern blinkende Buzzwords wie Tarifgefälle, Strukturwandel, Fremdenfeindlichkeit, Rechtsradikalismus. Die eine ostdeutsche Identität gibt es nicht, wohl aber ein pauschales Klischeebild „Ostdeutschland“. Gleichzeitig potenzieren sich im Osten gesamtdeutsche Phänomene wie Landflucht oder die Herausbildung einer neuen Klassen-Gesellschaft. Davon erzählen uns immer mehr Autor:innen der Nachwende-Generation, wie z.B. Valerie Schönian, Johannes Nichelmann und Lukas Rietzschel.

 

I FEEL OST – CHILDREN OF THE REVOLUTION

 

Diese Autor:innen verstehen sich nicht als „Erklärer des Ostens“, vielmehr arbeiten sie sich differenziert an der Eltern-Generation ab und stellen Fragen nach der Deutungshoheit über „den Osten“. Geboren Ende der 1980er bis Mitte der 1990er, zählen sie zu den ersten, die die DDR nicht mehr bewusst miterlebt haben, wohl aber durch ihre Sozialisation vom Arbeiter- und Bauernstaat wesentlich geprägt sind. Denn in den Köpfen der Menschen endete die DDR nicht mit dem Mauerfall oder am 03. Oktober. Ob nun die (west-)deutsche Sicht auf den Osten oder die enttäuschten Erwartungen an die Wiedervereinigung; diese Nachwende-Autor:innen zeichnen das Bild einer Generation, deren kollektives Gedächtnis noch wesentlich von den teilweise traumatisierenden Erfahrungen der Vor- und Nachwendezeit gezeichnet ist.

 

FREMD IN DER WELT, AUS DER MAN STAMMT

 

Lukas Rietzschel, geboren 1994, wuchs in Räckelwitz bei Kamenz auf. Sein Debütroman MIT DER FAUST IN DIE WELT SCHLAGEN (Ullstein) wurde bei seinem Erscheinen im Jahr 2018 als „Buch der Stunde“ gefeiert. In diesem Roman geht es um Radikalisierungsprozesse im Osten der Nachwendezeit. Der Osten wie durch Brennglas betrachtet – als Exempel für gesamtdeutsche Gesellschaftsprozesse. Mit einer eigenen Bühnenfassung für die Dresdner Uraufführung, die er zusammen mit der Dramaturgin Julia Weinreich und der Regisseurin Liesbeth Coltof verfasste, näherte sich Rietzschel der dramatischen Form an.

WIDERSTAND ist nun Lukas Rietzschels erster Text, der als Auftragswerk für das Schauspiel Leipzig direkt für das Theater entstanden ist. Die Inszenierung von Enrico Lübbe wurde Corona-bedingt zu einem Theaterfilm adaptiert. Hier geht es zu den aktuellen Streaming-Terminen.
In dem Stück treffen wir auf Isabell. Sie ist Ende zwanzig und arbeitet als angehende Allgemeinmedizinerin in Leipzig. Als sich der Gesundheitszustand der Mutter verschlechtert, kehrt Isabell zurück in ihr Heimatdorf, um den zunehmend überforderten Vater zu unterstützen. Sie wird dabei nicht nur mit der Erkrankung ihrer Mutter konfrontiert, sondern auch mit der schleichenden Radikalisierung des eigenen Vaters. Was sie in Leipzig erfolgreich verdrängen konnte, holt sie nun mit aller Brutalität und Vehemenz ein. Ihre Heimat ist gezeichnet von Landflucht und Perspektivlosigkeit. Ein Ort der Zurückgelassenen.

 

EIN MODERNES VOLKSSTÜCK

 

WIDERSTAND führt uns in eine der Gegenden, die vom Strukturwandel am härtesten betroffen ist. Rietzschel beschreibt schonungslos und präzise das Zerbrechen einer Kleinfamilie inmitten einer sich auflösenden Dorfgemeinschaft. Hier wird die Sprach- und Verständnislosigkeit zwischen den Generationen schmerzhaft greifbar gemacht. Rietzschels komprimierte Schreibe lässt viel Raum für das Unsagbare, die Sprachlosigkeit zwischen den Eltern und ihren Kindern. Er ist mit seinem lakonischen Sprachstil ganz nah an den Figuren dran und lässt ihnen Raum, sich zu entfalten. Da bleibt kein Platz für manierierte Ausschweifungen.

 

„Die Stille Hilflosigkeit oder die verbale Aggressivität einer schnell gezückten Floskel erscheint immer wieder in Rietzschels Dialogen, ebenso wie die laute Stille einer Antwort, die nicht gegeben wird.“ (Chefdramaturg Torsten Buß über das Stück)

 

In der Tat sind das Verschweigen, der unausgesprochene Konflikt zwischen den Generationen und die stille Hoffnung auf ein besseres Leben wesentliche Themen, die Rietzschels bisheriges Œuvre durchziehen. Als Gesellschaftsporträt steht das Stück auch in der Tradition sozialkritisch-realistischer Volksstücke, à la Fleißer, Kroetz und Fassbinder: systematische Ausgrenzung, das Leben in der Provinz und der genaue Blick für eine gesellschaftliche Schicht, die sich selbst überlassen wird – um nur einige Parallelen zu nennen.

 

WIDERSTAND ist keineswegs ausschließlich ein Stück über Radikalisierung und Rechtsextremismus. Isabells Familie und ihre Schulkameraden gleiten immer weiter ins Prekariat ab, stehen exemplarisch für die Herausbildung einer neuen Klassengesellschaft. Der Soziologe Prof. Andreas Reckwitz beschreibt in seinem Essay-Band DAS ENDE DER ILLUSIONEN, wie sich eine neue, global vernetzte und hoch ausgebildete Mittelklasse etablierte, welche die alte Mittelklasse aus dem Industriezeitalter ins Abseits drängte. Laut Reckwitz formierte sich außerdem eine neue Unterschicht (Prekäre Klasse). In dem Spannungsverhältnis zwischen neuer und alter Mittelklasse und dem „Dienstleistungs-Proletariat“ siedelt Rietzschel seine Figuren an.

 

„In WIDERSTAND, so sehr es vermeintlich um die Radikalisierung geht, wird ja vor allem verhandelt, wie es sich anfühlt, ‘am Rand‘ zu leben und aus der gesellschaftlichen Wertschöpfungskette ausgeschlossen zu sein, wie es ist, in die Dienstleistung abzurutschen und der Konsumwelt eines alten Mittelstandes hinterherzulaufen.“ (Lukas Rietzschel)

 

Die Umbrüche, die Reckwitz beschreibt, werden im Stück konkret verhandelt. In WIDERSTAND porträtiert der Nachwende-Autor Rietzschel nicht nur den Osten, sondern thematisiert gesamtdeutsche Tendenzen. Zusammen mit weiteren Zeitgenossen zeichnet er ein Gesellschaftsbild im Umbruch – zwischen Ost und West. Rietzschels politische Wachsamkeit, sein analytischer Blick auf unsere Gesellschaft und seine empathische Annäherung an die konkrete Lebensrealität der Zurückgelassenen machen ihn zu einer wichtigsten jungen Stimmen der deutschen Gegenwartsliteratur.

Lukas Rietzschels neuer Roman RAUMFAHRER erscheint am 23.07.2021 bei dtv.

WIDERSTAND wird in der Theater-Anthologie DRAMATISCHE RUNDSCHAU 03 (FISCHER Taschenbuch) abgedruckt.

WIDERSTAND von Lukas Rietzschel
Mit: Tilo Krügel, Teresa Schergaut, Dirk Lange, Annett Sawallisch und Denis Grafe
Regie: Enrico Lübbe Bühne: Hugo Gretler Kostüme: Teresa Vergho
Musik: Peer Baierlein Dramaturgie: Torsten Buß Kamera und Schnitt: Kai Schadeberg, Fabian Polinski Licht: Thomas Kalz Theaterpädagogische Betreuung: Babette Büchele


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