Sergej Gladkich

Theater
Alexej Schipenko

Aus dem Leben des Komikaze

Deutsch von Sergej Gladkich
7 H, 1 Dek

"Wie du siehst, ist das Stammeln das beste Mittel zur Wiedergabe von Sinn." - Im Angesicht des Krieges und seines Irrsinns mag es sogar die einzige Möglichkeit sein, sich überhaupt noch auszudrücken. Die Figuren in diesem Schreckensspiel über Krieg, Macht und Größenwahn stammeln sehr eloquent. Insbesondere Zanzani, dessen Beerdigungreden auf Komikaze allerdings von Mal zu Mal kürzer ausfallen. Das Sterben wird zum Alltag, und Unsterblichkeit wie die Komikazes ist für die Mitwelt von einer provozierenden Langeweile.
Die Chefs von Komikaze haben es mit ihm sowieso nicht leicht: Immer wieder stürzt sich Komikaze auf feindliche Zerstörer und demoliert dabei die eigenen Flugzeuge. Die Chefs erwarten deswegen ihr Matahari - Folter, quälender Tod. Bis dahin aber ergehen sie sich in Selbststilisierungen. Statt ihrer wird dann Komikaze irgendwann als üppiges Mahl auf dem Speiseplan stehen. Aber auch das ist noch nicht sein endgültiger Tod. Nachforschungen über ihn werden angestrengt. Seine direkten Ahnen sind die Väter im Alten Testament. Aber warum sterben alle seine Frauen, die Emiratin, die im eigenen Öl ertrinkt, die chinesische Ballettänzerin, deren Knochen aus Bambus in einem Salzsäurebad verkohlen? Und hängt seine Unsterblichkeit damit zusammen, dass er sich erst im Flugzeug mit dem stumpfen Messer seines georgischen Großvaters rasiert? "Das ist es ja, daß ich nicht weiß, was ich denke", sagt Komikaze selbst dazu.

"Komikaze" ist eine abstruse Abrechnung mit dem Krieg ebenso wie eine perfide Bloßstellung aller möglichen Ideologien und Religionen. Das Ergebnis sind Kreaturen, die sich ihrer selbst nur mehr durch absurde Mystifizierungen versichern können.

UA Frei
Theater
Alexej Schipenko

Mein weißer Mercedes

Deutsch von Sergej Gladkich
1 D, 6 H, 1 Dek

31. Dezember 1971. Moskau. Es schneit.
Der Dissident Sheka wird beschattet. Der weiße Lada, mit Mitarbeitern des KGB gefüllt, steht vor seinem Hauseingang Wache. Keinerlei Geheimnisse: er weiß, wer sie sind, und sie wissen, dass er es weiß. Sheka bittet sie, ihn zu einer Adresse zu fahren, weil er sich zu einem konspirativen Treffen verspätet. Er kommt mit dem Gruppenleiter ins Gespräch, sie scherzen, trinken Sekt. Der Chef (mit dem Namen Iwan, Sheka nennt ihn jedoch Johannes, wie den Evangelisten, und zum Lada sagt er Mercedes) uriniert regelmäßig in ein 3-Liter-Glas, weil er Tagesurin fürs Labor sammelt - der KGB-Agent hat Probleme mit den Nieren.
Mitten im Gespräch läutet das Autotelefon. Die Agenten erhalten den Auftrag, den Dissidenten zu liquidieren. Der Befehl wird sofort ausgeführt. Johannes entlässt dann die Helfer (Peter und Paul), platziert die Leiche auf dem Hintersitz und begibt sich zu Shekas Verabredungen mit einem amerikanischen Journalisten (einem CIA-Agenten, natürlich), mit Shekas Freundin, ja sogar mit deren Hund, der verdächtig an einen Teufel erinnert... Er ist nett und charmant, belesen und sentimental, zitiert aus Frischs Stiller die Stelle von Rip van Winkle, will in die Natur und kuhwarme Milch. Am Schluss stirbt er wie ein Matador (ein kastrierter freilich) auf den Hörnern einer erzürnten Kuh.
Das Stück entstand 1989 und griff einer Stilistik vor, die von Quentin Tarantino einige Jahre später eingeführt wurde.

Theater
Alexej Schipenko

Moskau-Frankfurt. 9000 Meter über der Erdoberfläche.

Deutsch von Sergej Gladkich
2 H, 1 Dek

Zwei Männer auf der linken Tragfläche eines steigenden Flugzeuges. Alexander und Philippe: zwei Clowns, zwei Menschen, zwei Engel? Zwischenwesen sind sie, auf dem Weg durch eine Zwischenwelt. Sie fliegen irgendwohin und streiten sich, wie sie es immer schon gemacht haben. Alexander philosophiert und spricht sein Leben in ein Diktaphon. Philippe profanisiert und ist der derbere von beiden. Um das Leben geht es Alexander, schlicht und ergreifend, darum, wie einsam und verletzend es ist, erwachsen zu werden, und wie er schon in seiner getrübten Kindheit die Levitation entdeckte. Philippe erzählt von seinem früheren Leben als Tier und davon, daß er sich als Tier wenigstens geliebt fühlte. Wie andere prominente Clownspaare auch, sind sie in einer Haßliebe untrennbar geworden. Beide sind denkbar verschieden. In ihrer Verlorenheit treffen sie sich.
Und immer mal wieder springt einer der beiden von der Tragfläche des fliegenden Flugzeuges, um es zu umrunden und die Piloten bei 40 Grad minus mit herabgelassenen Hosen zu provozieren.
Dann steht das Flugzeug plötzlich still und verschwindet, Alexander und Philippe landen auf dem Boden. In der Nähe leuchtet ein Schild wie das einer Kneipe auf: Realität. Bleibt man davor stehen, wie vor Kafkas Toren, oder kriecht man auf sie zu?

ALEXANDER: "Als ich klein war, fühlte ich, wie die Welt zerfiel und sich daraus Eines absonderte, und dieses Eine war ich, ich war dieses Eine, was gleichzeitig alles war."

PHILIPPE: "Außerdem begriff ich, daß wenn man fortgehen will, wirklich will, dann geht man, verschwindet, schwebt fort und überläßt die Erde den Elephanten und Echsen."

Theater
Alexej Schipenko

Suzuki 1

Deutsch von Sergej Gladkich
6 H, St, Verwandlungsdek

Draußen Berlin. In der Autowerkstatt: Istanbul - türkisches Gemurmel, träge Betriebsamkeit. Der Deutsche Klaus Klaus (K.K.) kommt so von Berlin nach Istanbul und provoziert in die Reglosigkeit hinein. Nichts jedoch lässt sich in Bewegung versetzen, zur Spannung reizen: Dialoge lösen sich in Zusammenhangslosigkeit auf und versickern in Schweigen; Sprache und Gesten verkleben zu Klischees und Ritualen, erstarren in kompakten Pausen; heftige Gefühlsausbrüche und sich gefährlich hochschraubende Gewaltspiralen erfrieren zu grotesken Drohgebärden.

Aus der Konsequenzlosigkeit jeden Handelns ergibt sich seine Bedeutungslosigkeit. Nur ein Radfahrer hat die Spielregeln nicht verstanden, handelt folgerichtig und provoziert eine - unaufgeregte - Eskalation.

In Suzuki 1 stellt Schipenko den deutschen Schriftsteller K.K. in einen ihm (und Schipenko selbst) fremden Kosmos mit eigenen Gesetzen, Verhaltensregeln, Normalitäten. Trotz aller Fremdheit verhält K.K. sich von Anbeginn nicht als Eindringling, sondern taucht in einer unangestrengten, natürlichen Bewegung in diese Welt ein. Die türkische Autowerkstatt verdichtet sich um K.K. herum zunehmend zu einer Traumwelt, in der Sprache und Bewegung äußerst karg und stark ritualisiert sind - einer eigenen Logik folgen. Von draußen betrachtet, erscheint diese Logik brüchig, die Welt zerklüftet, doch drinnen ist sie ein mit schlafwandlerischer Sicherheit funktionierendes, kohärentes Ganzes. So kohärent, dass sie als realer Alptraum ins Draußen einbrechen kann.

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