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Fokus

Caren Jeß & Thomas Perle & Angela Lehner

Überraschende Coronablüten – Geteilte Uraufführungen

In der Spielzeit 2021/22 ist etwas passiert, was vor Corona kaum denkbar gewesen wäre: Zwei Theater haben sich eine Uraufführung geteilt. Und zwar nicht im kooperativen Sinne einer geteilten Inszenierung, sondern im vervielfältigten Sinne von zwei völlig unabhängigen Uraufführungsinszenierungen. Wenn das nicht eine zarte Knospe Hoffnung im Gewirr des dramatischen Miteinanders ist?

Blütenknospe

 

Geteilte Uraufführungen, das ist doch Augenwischerei, mögen einige jetzt protestieren. Alle wissen, dass Uraufführungen vor allem eines sind: einzigartig. Denn dafür bezahlen die Theater Geld, dafür bekommen sie Aufmerksamkeit (zumindest war das mal irgendwann so) und im Idealfall gehen sie damit auch noch in die Theatergeschichte ein. Und auch wenn das alles stimmt, wäre trotzdem mal die Frage zu stellen (wie bei allen schon lange andauernden, in die Praxis eingemeißelten und nicht weiter hinterfragten Vorgängen), wem dieses Uraufführungsregularium eigentlich genau und warum dient, und ob es nicht langsam mal an der Zeit wäre, das Thema Uraufführung neu zu betrachten? Jede Uraufführung trägt das süße Versprechen in sich, vielleicht das Stück der Stunde auf die Bühne gebracht zu haben und dem Uraufführungstheater zu Ruhm und Ehren (überregional) verhelfen zu können. Diese Sehnsucht führt nicht selten dazu, dass die Vergabe einer Uraufführung das Interesse aller anderen Theater automatisch erlöschen lässt. Auch wenn das Stück natürlich nachgespielt werden könnte. Doch dem Nachspiel wohnt offenbar zu wenig Zauber inne. Der Hunger nach Uraufführungen ist groß. Trotzdem stirbt die Hoffnung ja zuletzt. Und siehe da, während der Coronazeit sind auf einmal zarte Blüten des Miteinanders gewachsen. Denn die Vergabe einer doppelten Uraufführung bzw. einer geteilten Uraufführung oder wie auch immer man das nennen möchte, entstand in dieser Ausnahmesituation. Bei ELEOS von Caren Jeß war die Uraufführung zum Beispiel bereits mit dem Theater Braunschweig vereinbart, als Graz ebenfalls sein Interesse signalisierte. Für Graz kam allerdings nur ein deutlich früherer Premierentermin in Frage. Und weil wir gerne beide Inszenierungen ermöglichen wollten und ohnehin fanden, dass Corona schon zu viel zu vielen Ausfällen geführt hatte, und eine Uraufführung nichts dadurch verlieren kann, wenn sie zwei Inszenierungen statt einer beinhaltet, schlugen wir Braunschweig und Graz vor, sich die Uraufführung doch zu teilen. Zu unserer großen Freude haben beide Theater sich darauf eingelassen, was auch für die Autorin ein tolles Signal war. Ähnlich verhielt es sich beim Staatstheater Mainz, das dem Schauspiel Hannover bei der Uraufführungsinszenierung von Angela Lehners VATER UNSER den Vortritt ließ. Und auch das Wiener Burgtheater trat für die Möglichkeit einer früheren Uraufführung von Thomas Perles „karpatenflecken“ am Deutschen Theater Berlin einen Schritt zurück. Die Doppelvergabe des Uraufführungsbegriffs schien und scheint uns dementsprechend angemessen, um die bemerkenswerte Großzügigkeit dieser Theater und ihr ernsthaftes Bemühen um eine nachhaltige Wahrnehmung dieser Texte sichtbar zu machen. Die große Bereitschaft aufeinander zuzugehen und gegebenenfalls auch einem anderen Theater den Vortritt zu lassen, hat uns als Verlag schwer beeindruckt. Und gezeigt, dass nichts in Stein gemeißelt sein muss, wenn gemeinsam Alternativen gesucht und gefunden werden: nicht einmal die Einmaligkeit einer Uraufführung.

© Jewgeni Roppel

Caren Jeß

Caren Erdmuth Jeß, geboren 1985 in Eckernförde, studierte Deutsche Philologie und Neuere deutsche Literatur in Freiburg i.Br und Berlin. Als Dramatikerin trat sie das erste Mal 2017 in Erscheinung, als sie mit ihrem Stück Deine Mutter oder Der Schrei der Möwe den dritten Platz des Osnabrücker Dramatikerpreises belegte. 2018 gewann sie die Residency des Münchner Förderpreises für deutschsprachige Dramatik mit Bookpink. Mit der Grazer Uraufführungsinszenierung von Bookpink wurde sie 2020 für den Mülheimer Dramatikerpreis nominiert und zur Nachwuchsdramatikerin des Jahres erklärt. Im Jahr davor gewann sie außerdem den Else-Lasker-Schüler-Stückepreis für ihr Stück Der Popper und den Preis der taz-Publikumsjury des 26. open mike für Die Ballade von Schloss Blutenburg. 2023 gewann sie für das Stück Die Katze Eleonore in der Produktion des Staatsschauspiel Dresden den Mülheimer Dramatikpreis sowie den Publikumspreis der Mülheimer Theatertage. Caren Jeß lebt in Dresden.

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© Julia Grevenkamp

Thomas Perle

Thomas Perle, geboren 1987 im sozialistischen Rumänien, wuchs dreisprachig in Nürnberg auf, studierte Theater-, Film- und Medienwissenschaft an der Universität Wien mit Diplomabschluss. Neben dem Studium war er am Volkstheater Wien und als Regieassistent am Schauspielhaus Wien tätig. Im Rahmen der Wiener Wortstaetten entstanden mehrere Projekte.
Er lebt und arbeitet als freier Autor und Dramatiker in Wien. Für seine Prosa und Dramatik wurde er mehrfach ausgezeichnet, u.a. Retzhofer Dramapreis 2019. 2018 erschien sein Prosaband wir gingen weil alle gingen. im Verlag edition exil.

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© Ramona Waldner

Angela Lehner

Angela Lehner wurde in Klagenfurt geboren, wuchs in Osttirol auf und lebt heute als Schriftstellerin in Berlin. Sie studierte Vergleichende Literaturwissenschaft in Wien, Maynooth und Erlangen. Vor ihrem Debüt nahm sie u. a. an der Prosawerkstatt des Literarischen Colloquiums Berlin und dem Klagenfurter Literaturkurs teil. Vater unser erhielt den Franz Tumler-Literaturpreis, den Alpha-Literaturpreis, den Rauriser Literaturpreis, stand auf der Longlist für den Deutschen Literaturpreis und wurde mit dem Österreichischen Buchpreis für das beste Debüt ausgezeichnet. Lehner erhielt u. a. Schreibstipendien des Deutschen Literaturfonds und des österreichischen BMUKK sowie 2022 das Haymon achensee.literatour-Stipendium.

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