Theater
Fokus

Wolfram Lotz

Wolfram in the Window

Ein Tagebuch mit dem anmaßenden Titel HEILIGE SCHRIFT I und einem Umfang von 900 Seiten ist genau das, was uns bislang zum Glück noch fehlte. Friederike Emmerling testete bei der Buchpremiere in Leipzig, ob das Buch auch beim Zuhören der vorbeiziehenden Wirklichkeit standhalten kann.

Wolfram Lotz im Buchladen

In der Leipziger Kolonnadenstraße gibt es einen kleinen, herrlich charmanten Buchladen, ROTORBOOKS. Hier fand die Buchpremiere von Wolframs Heilige Schrift I statt. Drinnen und draußen fröhliches Gedränge. Die Stimmung schien übermütig, vielleicht weil allein schon die Existenz eines solchen Buches zum Übermut einlud. Auf der Straße stand ein Lautsprecher. Wolfram saß im Schaufenster. Wie eingerahmt. Diesem Anblick war schwer zu widerstehen. Ich gab meinen Sitzplatz drinnen frei und setzte mich auf eine wackelige Bank vor das Fenster. Und selbst wenn die fortschreitende Nacht irgendwann den Einsatz aller verfügbaren Jacken und Pullis zum Schutz gegen die Kälte notwendig machte, fühlte sich diese Entscheidung einzig richtig an. Ein Text, der versucht, das Leben nicht auszuschließen, sondern jede Störung reinzuschreiben, muss konsequenterweise genauso gehört werden. Von der Seite drang Wolframs Stimme aus dem Lautsprecher, Splitter aus der Heiligen Schrift I, traurig, komisch, wahr, ein wildes Blättern und zufälliges Finden von Beobachtungen, Erkenntnissen, Abrissen aus diesem Elsass-Tagebuch. Und hinter mir Gelächter und Wortfetzen, Musik, Geschrei, mal lauter, mal leiser, von der Lesung völlig unbeeindrucktes Leben auf der Straße, ein Teppich aus Geräuschen, der sich immer wieder über das Gelesene zu legen versuchte. Doch die Heilige Schrift I gewann immer wieder die Oberhand, sie war wirklich beharrlich und freute sich bestimmt, dass selbst ihr Zuhören hier von der Wirklichkeit eingeholt wurde. Für sie ist ja ohnehin nie ganz eindeutig, worin sich das Wesentliche eigentlich gerade zeigt. Ist es der Besuch beim Kinderarzt oder die Katze vor dem Fenster, sind es die Gedanken von Miley Cyrus oder Durs Grünbein, die Weiten des Netzes, die Fichten im Schwarzwald oder die Zubereitung des Mittagessens, Laute, Geräusche, Zeitungsartikel, Politik, Familie, Freunde, Feinde, Gespräche?

Neben Wolfram in the Window stand die Heilige Schrift I und leuchtete mit pinker Penetranz auf die dunkle Straße hinaus. Ein wunderschönes, anmaßendes, wuchtiges und begehrenswertes Buch. In seinem Umfang genauso anmaßend wie mit seinem Titel. Und trotzdem bei genauerer Betrachtung eben gar nicht anmaßend, sondern bei aller Komik und Leichtigkeit überwältigend ernsthaft auf der Suche nach dem, was Schreiben und schlussendlich auch das Leben tatsächlich bedeuten. Und diese Suche tut eben immer auch mal weh.

Am Ende gab es köstlich prickelnden Crémant d´ Alsace für alle. Wir stießen an – auf das Buch und auf das Leben. Es war für den Moment ein wirklich schönes Gefühl.

© Andre Simonow

Wolfram Lotz

Wolfram Lotz, geboren 1981 in Hamburg, wuchs im Schwarzwald auf. Er studierte Literatur-, Kunst- und Medienwissenschaft in Konstanz, und Literarisches Schreiben am Deutschen Literaturinstitut Leipzig. Er schreibt Theaterstücke, Hörspiele, Lyrik und Prosa und wurde bereits mehrfach ausgezeichnet, vor allem für Die lächerliche Finsternis. In seinen Stücken stellt er immer wieder die Darstellung von Wirklichkeit auf der Bühne in Frage und fordert ein "Unmögliches Theater", in dem die Fiktion die Realität bestimmt und verändert.

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