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Nele Stuhler

Hörspiel des Monats September 2020: KEINE AHNUNG von Nele Stuhler

Die Jury der Deutschen Akademie der Darstellenden Künste benennt zum Hörspiel des Monats: KEINE AHNUNG von Nele Stuhler Regie: Nele Stuhler Komposition: Laura Eggert Dramaturgie: Julia Gabel und Johann Mittmann Redaktion: Barbara Gerland Produktion: DLF Kultur Länge: 55 ́36‘‘ Erstsendung: 06.08.2020

Porträt von Nele Stuhler © William Minke

Die Begründung der Jury: „Und wie die Welt anders denken, wenn man denkt wie die Welt, wenn man schon immer ein bisschen wird, wie es immer schon war. Sozusagen. Keine Ahnung.“ Kassandra und Sandra, das sind die Protagonistinnen des Hörspiels „Keine Ahnung“. Sie sind auch: zwei entgegengesetzte Denkweisen, Geisteshaltungen und Weltanschauungen. Kassandra ist fürs Verstehen zuständig, Sandra fürs Nicht-Verstehen. Getrieben vom wütenden Wunsch, alles wissen zu wollen, unternehmen die beiden Protagonistinnen den Versuch, die eigene Ahnungslosigkeit nicht als Begrenzung zu sehen, die es zu verstecken gilt, sondern als Grundlage, um der Welt begegnen zu können. „Vorlesungen über das Nichtwissen heißt dieses Unternehmen oder nonepistemische Vorlesungen, also epistemunlogische Vorlesungen sozusagen oder Keine Ahnung-Vorlesungen über die Ahnungslosigkeit.“, so bezeichnet die Erzählerin das wagemutige Experiment. In diesem hinterfragen die beiden Protagonistinnen traditionelle Weltordnungen sowie Formen und Konzepte von Wissensaneignung und -verbreitung. Rasant und mit vielen Wortspielen zerpflücken Sandra und Kassandra den biblischen Schöpfungsmythos, interpretieren die griechische Mythologie neu, führen einen Diskurs über Museumsdidaktik, Autor*innen- und Mutterschaft und stellen am Schluss ein agnostisches Manifest auf. Mit intelligentem Witz schafft es das Hörspiel „Keine Ahnung“, die Balance zwischen Unterhaltung und Erkenntnisstiftung zu wahren. Das reichhaltige Assoziationsgeflecht berührt eine Vielzahl an Themen, driftet dabei jedoch niemals in die Abstraktion ab, sondern wird durch eine klare Klammer – die des Verstehens bzw. Nicht-Verstehens – zusammengehalten. Bemerkenswert ist, dass Nele Stuhler in den 55 Minuten ihres Hörspiels eine ganz eigene Form feministischer Erkenntniskritik entwickelt. Unter Verwendung literarischer, theoretischer und performativer Ansätze interpretiert und reflektiert das Stück die Themen Wissen und Nicht-Wissen radikal und zeitgemäß aus feministischem Blickwinkel. „Meinen ganzen Feminismus frage ich mich schon, was ich mit dem Steuer mache, wenn ich dran bin“, bemerkt Sandra. Tolle Sprecherinnen – allen voran Sophie Rois als körperlose Museumsstimme – tragen zu der hohen Klangqualität des Hörspiels bei, das immer wieder raffiniert die Möglichkeiten des Mediums auslotet, Fußnoten hörbar macht und Quellen offenlegt. Der Schlussappell, dass sich alle Menschen ihr Nicht-Wissen eingestehen sollten, weil sowieso niemand alles wissen könne, wirkt noch lange nach. Eine kurzweilige, kluge Reflexion über nichts Geringeres als die conditio humana selbst – und über die immerwährende Herausforderung, über ihre Begrenztheit hinauszudenken. „Liebe Marlies, bei uns zu Hause wurde kein Wort Deutsch gesprochen. Und jetzt sitz ich hier und bin deine Kollegin, eure Kollegin und unterrichte Englisch und Deutsch und Politik auf Deutsch. Und warum hat das alles so gut geklappt? Weil meine Mutter mit mir geredet hat. Weil sie mich geliebt hat! Die Sprache spielt dabei keine Rolle. Es ist egal, was die Kinder zu Hause für eine Sprache sprechen. Entscheidend ist, welche Sprache sie in der Schule sprechen. Ich habe Deutsch im Kindergarten gelernt, mit meinen Brüdern, in der Grundschule, überall, nur nicht zu Hause. Türkisch ist meine Muttersprache, Deutsch ist meine Geschäftssprache. Vielleicht denkst du darüber mal nach, bevor du das nächste Mal so einen Blödsinn verzapfst!“

© William Minke 2019

Nele Stuhler

Nele Stuhler wurde 1989 in Osterburg (Altmark) geboren und wuchs in Berlin auf. Sie studierte Philosophie und Volksbühne in Berlin, Angewandte Theaterwissenschaft in Gießen, Regie in Zürich und absolvierte den Lehrgang FORUM TEXT von uniT Graz. Sie arbeitet als Autorin, Regisseurin und Performerin und schreibt alleine und mit anderen. Ihre Arbeit Mauerschau entstand 2017 an den Sophiensaelen in Berlin und wurden unter anderem zum DramatikerInnen Festival Graz, dem Out-Now Festival Bremen und zum Jubiläum 30 Jahre Mauerfall der Stadt Berlin eingeladen und von Deutschlandfunk Kultur als Hörspiel realisiert. Für ihr Theaterstück Fische erhielt sie 2016 den Münchner Förderpreis für deutschsprachige Dramatik und 2018 den Else-Lasker-Schüler Stückepreis. Mit ihrer Theatergruppe FUX realisiert sie seit 2011 eigene Arbeiten unter anderem beim Treibstoff-Festival Basel, am Stadttheater Gießen, am Schauspielhaus Wien, an den Münchner Kammerspielen, am Mousonturm Frankfurt und am HAU Berlin. Eine enge Zusammenarbeit verbindet sie zudem mit Jan Koslowski, mit dem sie Arbeiten unter anderem am Ballhaus Ost Berlin, der Kunsthalle Rostock, der Ruhrtriennale Master Class und dem Schauspiel Frankfurt entwickelte.

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