Theater

Alexej Schipenko

Archeologia

Stück in 17 Szenen

Geschichte einer Suche, der Suche eines Kontinents nach einer neuen Struktur. Ähnlich einer Parabel versucht Schipenko, die Geschicke Russlands zu erläutern, indem er die typisierten Verteter der sich auflösenden modernen russischen Gesellschaft aufeinandertreffen lässt.
Spielregeln gibt es keine - schon äußerlich nicht: Die 17 Episoden spielen in einer Garage, am Sandstrand, in der Moskauer U-Bahn, sie spielen über und unter der Erde, in der Fiktion und in der Fiktion der Fiktion.
Im Schlagschatten des fragenden Gegenüber werden Ljoscha, sein Onkel Ljodka, die Frau, sein Freund, Krischna, Polina und die Alte zu Akrobaten zwischen Vergangenheit, Gegenwart, Traum und Wirklichkeit, schlagen Kapriolen in Film, Vision, Erinnerung, Lyrik und Metaphysik, üben ihre Salti durch die russische Geschichte, vorwärts wie rückwärts, doppelt und dreifach.

Deutsch von Barbara Lehmann

3 D, 4 H, Verwandlungsdek

UA: 1989 · Jugendtheater, Kiev · Regie: Valerij Bilchenko

DSE: 19.06.1993 · Theater Oberhausen · Regie: Ralf-Günter Krolliewicz

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DSE Frei
Theater
Alexej Schipenko

Naturalwirtschaft in Shambala

Deutsch von Christa Vogel
3 D, 17 H, (Doppelbesetzungen möglich), St, Verwandlungsdek

Aus dem St. Petersburg des ausgehenden 19. Jahrhunderts verschleppt der ehemalige Arzt Brando den Körper des verstorbenen Mädchens Lisa nach Shambala, ins mythische Tibet. Lisa wird - 5 Jahre später - an ihrem Geburtstag auferweckt, und die beiden leben dort mit Toten, Untoten, Lebenden und Noch-nicht-Geborenen in einer Kommune zusammen.
In Shambala ist alles möglich, denn in Shambala gibt es nur das Hier und Jetzt. Hitler malt und spielt mit Mussolini Schiffe-Versenken; Marx als Bäcker serviert Bier und Piroggen und zitiert währenddessen aus seinen Werken; Lama -"eine der Säulen des Lamaismus"- ist Alkoholiker und beschimpft Napoleon. Nostradamus prophezeit die Apokalypse, buddhistische Mönche sitzen herum und meditieren von Zeit zu Zeit mit sonoren Bässen.
Doch eine Expedition aus St. Petersburg, angeführt von Lisas Cousin, Sascha, dringt in Shambala mit dem Ziel ein, alle zu vernichten.
Brando, Sascha und Lisa bleiben übrig, die drei leben weiter, um sich gegenseitig umzubringen. 5 Jahre später feiern sie dann gemeinsam Brandos Geburtstag.
Die letzte Szene gleicht der Anfangsszene, der Kreis schließt sich, der Reigen könnte von neuem beginnen...

In 23 Kapiteln erzählt Alexej Schipenko in einem rätselhaften, scheinbar irrealem Szenenreigen ein Epos über das Leben und die Liebe.
Durch das Auflösen von Grenzen wie Zeit und Ort in der Utopie Shambala erzeugt er beim Zuschauer eine neue Aufmerksamkeit für (Geschichts-)Figuren und die mit ihnen verhafteten Klischees, die andere Facetten und Perspektiven öffnet.
Mit Möglichkeiten und Unmöglichkeiten des Theaters jongliert Alexej Schipenko, er spielt und bricht mit den Mitteln des Mediums, reizt diese aus. Was ist Schein, was Traum, was Wirklichkeit ?

UA Frei
Theater
Alexej Schipenko

Mein weißer Mercedes

Deutsch von Sergej Gladkich
1 D, 6 H, 1 Dek

31. Dezember 1971. Moskau. Es schneit.
Der Dissident Sheka wird beschattet. Der weiße Lada, mit Mitarbeitern des KGB gefüllt, steht vor seinem Hauseingang Wache. Keinerlei Geheimnisse: er weiß, wer sie sind, und sie wissen, dass er es weiß. Sheka bittet sie, ihn zu einer Adresse zu fahren, weil er sich zu einem konspirativen Treffen verspätet. Er kommt mit dem Gruppenleiter ins Gespräch, sie scherzen, trinken Sekt. Der Chef (mit dem Namen Iwan, Sheka nennt ihn jedoch Johannes, wie den Evangelisten, und zum Lada sagt er Mercedes) uriniert regelmäßig in ein 3-Liter-Glas, weil er Tagesurin fürs Labor sammelt - der KGB-Agent hat Probleme mit den Nieren.
Mitten im Gespräch läutet das Autotelefon. Die Agenten erhalten den Auftrag, den Dissidenten zu liquidieren. Der Befehl wird sofort ausgeführt. Johannes entlässt dann die Helfer (Peter und Paul), platziert die Leiche auf dem Hintersitz und begibt sich zu Shekas Verabredungen mit einem amerikanischen Journalisten (einem CIA-Agenten, natürlich), mit Shekas Freundin, ja sogar mit deren Hund, der verdächtig an einen Teufel erinnert... Er ist nett und charmant, belesen und sentimental, zitiert aus Frischs Stiller die Stelle von Rip van Winkle, will in die Natur und kuhwarme Milch. Am Schluss stirbt er wie ein Matador (ein kastrierter freilich) auf den Hörnern einer erzürnten Kuh.
Das Stück entstand 1989 und griff einer Stilistik vor, die von Quentin Tarantino einige Jahre später eingeführt wurde.

Theater
Alexej Schipenko

Aus dem Leben des Komikaze

Deutsch von Sergej Gladkich
7 H, 1 Dek

"Wie du siehst, ist das Stammeln das beste Mittel zur Wiedergabe von Sinn." - Im Angesicht des Krieges und seines Irrsinns mag es sogar die einzige Möglichkeit sein, sich überhaupt noch auszudrücken. Die Figuren in diesem Schreckensspiel über Krieg, Macht und Größenwahn stammeln sehr eloquent. Insbesondere Zanzani, dessen Beerdigungreden auf Komikaze allerdings von Mal zu Mal kürzer ausfallen. Das Sterben wird zum Alltag, und Unsterblichkeit wie die Komikazes ist für die Mitwelt von einer provozierenden Langeweile.
Die Chefs von Komikaze haben es mit ihm sowieso nicht leicht: Immer wieder stürzt sich Komikaze auf feindliche Zerstörer und demoliert dabei die eigenen Flugzeuge. Die Chefs erwarten deswegen ihr Matahari - Folter, quälender Tod. Bis dahin aber ergehen sie sich in Selbststilisierungen. Statt ihrer wird dann Komikaze irgendwann als üppiges Mahl auf dem Speiseplan stehen. Aber auch das ist noch nicht sein endgültiger Tod. Nachforschungen über ihn werden angestrengt. Seine direkten Ahnen sind die Väter im Alten Testament. Aber warum sterben alle seine Frauen, die Emiratin, die im eigenen Öl ertrinkt, die chinesische Ballettänzerin, deren Knochen aus Bambus in einem Salzsäurebad verkohlen? Und hängt seine Unsterblichkeit damit zusammen, dass er sich erst im Flugzeug mit dem stumpfen Messer seines georgischen Großvaters rasiert? "Das ist es ja, daß ich nicht weiß, was ich denke", sagt Komikaze selbst dazu.

"Komikaze" ist eine abstruse Abrechnung mit dem Krieg ebenso wie eine perfide Bloßstellung aller möglichen Ideologien und Religionen. Das Ergebnis sind Kreaturen, die sich ihrer selbst nur mehr durch absurde Mystifizierungen versichern können.

Theater
Alexej Schipenko

Moskau-Frankfurt. 9000 Meter über der Erdoberfläche.

Deutsch von Sergej Gladkich
2 H, 1 Dek

Zwei Männer auf der linken Tragfläche eines steigenden Flugzeuges. Alexander und Philippe: zwei Clowns, zwei Menschen, zwei Engel? Zwischenwesen sind sie, auf dem Weg durch eine Zwischenwelt. Sie fliegen irgendwohin und streiten sich, wie sie es immer schon gemacht haben. Alexander philosophiert und spricht sein Leben in ein Diktaphon. Philippe profanisiert und ist der derbere von beiden. Um das Leben geht es Alexander, schlicht und ergreifend, darum, wie einsam und verletzend es ist, erwachsen zu werden, und wie er schon in seiner getrübten Kindheit die Levitation entdeckte. Philippe erzählt von seinem früheren Leben als Tier und davon, daß er sich als Tier wenigstens geliebt fühlte. Wie andere prominente Clownspaare auch, sind sie in einer Haßliebe untrennbar geworden. Beide sind denkbar verschieden. In ihrer Verlorenheit treffen sie sich.
Und immer mal wieder springt einer der beiden von der Tragfläche des fliegenden Flugzeuges, um es zu umrunden und die Piloten bei 40 Grad minus mit herabgelassenen Hosen zu provozieren.
Dann steht das Flugzeug plötzlich still und verschwindet, Alexander und Philippe landen auf dem Boden. In der Nähe leuchtet ein Schild wie das einer Kneipe auf: Realität. Bleibt man davor stehen, wie vor Kafkas Toren, oder kriecht man auf sie zu?

ALEXANDER: "Als ich klein war, fühlte ich, wie die Welt zerfiel und sich daraus Eines absonderte, und dieses Eine war ich, ich war dieses Eine, was gleichzeitig alles war."

PHILIPPE: "Außerdem begriff ich, daß wenn man fortgehen will, wirklich will, dann geht man, verschwindet, schwebt fort und überläßt die Erde den Elephanten und Echsen."

Theater
Alexej Schipenko

La FÜNF in der Luft

Deutsch von Barbara Lehmann
2 D, 1 H, Nebenrollen, 1 Dek

Eine Mutter und ihr 65-jähriger Sohn vegetieren, in ihren eigenen Ausscheidungen liegend, im Zimmer einer typisch sowjetischen Gemeinschaftswohnung: Kreaturen eher als Menschen, Tote eher als Lebende. Bruchstückhaft lässt sich aus bereits zum Ritual gewordenen Wort-Gefechten zwischen Mutter und Sohn deren biographische Misere erahnen: Die Alte, aus adeligem Milieu stammend, setzte sich als junge Frau aktiv für die Revolution ein. Einziger Glanzpunkt im Leben des Sohnes bildet sein Einsatz als Fliegerkapitän des berüchtigten, sowjetischen Kampfflugzeugs "La 5" im "großen Vaterländischen Krieg". Nach dem Krieg konnte Serjoscha nicht mehr Fuß fassen und wurde zum Alkoholiker.
Der Wort-Müll, die vulgäre Fäkaliensprache, mit denen sich Serjoscha und seine Mutter unablässig attackieren, ist nicht als Ausdruck proletarisch-pöbelhafter Gesinnung misszuverstehen. Serjoscha und seine Mutter gehören beide eindeutig der Intelligenzia an. Der im rituellen Gleichmaß immer wieder beschworene Fehdepunkt zwischen den beiden Opponenten - sie wift dem Sohn vor, ein Alkoholiker und Versager zu sein, zudem ein Verräter am Sozialismus; er wirft ihr vor, die adelige Herkunft der Revolution geopfert zu haben - ist nur ein scheinbarer: In ihrem tiefsten Inneren sind sich die beiden Kombatanten zutiefst einig. Wie der Großteil der gebildeten Russen der Gegenwart machen sich beide keine Illusionen mehr über Theorie und Praxis der sowjetischen Variante des Sozialismus: Allzu offensichtlich ist das Desaster der eigenen Existenz, in dem sich der allgemeine Bankrott des Landes spiegelt.
"Geh in den Arsch, dort ist Licht", sagt einer zum anderen. Kurz vor dem Tod erscheint beiden der Erlöser, personifiziert als Lenin und Christus zugleich. So sterben beide versöhnt.

Theater
Alexej Schipenko

Suzuki 1

Deutsch von Sergej Gladkich
6 H, St, Verwandlungsdek

Draußen Berlin. In der Autowerkstatt: Istanbul - türkisches Gemurmel, träge Betriebsamkeit. Der Deutsche Klaus Klaus (K.K.) kommt so von Berlin nach Istanbul und provoziert in die Reglosigkeit hinein. Nichts jedoch lässt sich in Bewegung versetzen, zur Spannung reizen: Dialoge lösen sich in Zusammenhangslosigkeit auf und versickern in Schweigen; Sprache und Gesten verkleben zu Klischees und Ritualen, erstarren in kompakten Pausen; heftige Gefühlsausbrüche und sich gefährlich hochschraubende Gewaltspiralen erfrieren zu grotesken Drohgebärden.

Aus der Konsequenzlosigkeit jeden Handelns ergibt sich seine Bedeutungslosigkeit. Nur ein Radfahrer hat die Spielregeln nicht verstanden, handelt folgerichtig und provoziert eine - unaufgeregte - Eskalation.

In Suzuki 1 stellt Schipenko den deutschen Schriftsteller K.K. in einen ihm (und Schipenko selbst) fremden Kosmos mit eigenen Gesetzen, Verhaltensregeln, Normalitäten. Trotz aller Fremdheit verhält K.K. sich von Anbeginn nicht als Eindringling, sondern taucht in einer unangestrengten, natürlichen Bewegung in diese Welt ein. Die türkische Autowerkstatt verdichtet sich um K.K. herum zunehmend zu einer Traumwelt, in der Sprache und Bewegung äußerst karg und stark ritualisiert sind - einer eigenen Logik folgen. Von draußen betrachtet, erscheint diese Logik brüchig, die Welt zerklüftet, doch drinnen ist sie ein mit schlafwandlerischer Sicherheit funktionierendes, kohärentes Ganzes. So kohärent, dass sie als realer Alptraum ins Draußen einbrechen kann.

Digitales Textbuch