Theater

Hansjörg Schertenleib

Gewölbe

Monolog

EINER bewegt sich am Rande.
EINERS Stimme spricht sich, spricht von sich: "Ins Licht gebracht im November des Jahres 1950. Lag gerne im Korb. Dieser stand im Schatten der Nachbarn. Perfekt zur Dachkante des Schulhauses. Sehr gut gelangen mir Schritte und das gesprochene Wort."
Spricht sich weiter in einen Rhythmus, der über seinen "Kopfpalast", das "Gedankenimperium", erzählt. "Mein Schädel ist Euch / ein finsteres Labyrinth Nie / begreift ihr es nie."
EINER schraubt sich in seine Erzähl-Gänge.
Spricht - also - von seiner Obsession: "Näher als / mein Schwanz ist / mir leider keiner / nichts"
Spricht ohne Zeichen, in einem Fluß.
Spricht von seiner "Onanierautomaten Maschine für Knaben melkereien elektrisch sauber effizient".
Der Redefluß wird zur Todesschraube: spricht von sich, gibt alles von sich:
"Alles hängt zusammen / mit Allem Also hängt / alles zusammen mit / mir Darum hat jeder / Fehler von mir / Konsequenzen Jeder / Fehler von mir zieht / Fehler von anderen / nach sich Automatisch / nach sich zum Beispiel /..."
Konsequenz: "Er schaltet seine autoerotische Installation ein. Er stirbt. Dunkelheit, fortwährend. Ruhe. Ruhe. Ruhe, ewige. EXITUS"

Der Monolog stülpt EINEN von Innen nach Außen und hallt wieder im Gewölbe. Dieses Monodrama hat viele Worte und eine große Stille.

1 H

UA: 25.10.1996 · Stadttheater St. Gallen · Regie: Volker Lösch

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UA Frei
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Hansjörg Schertenleib

Ultima Thule

3 D, 7 H, Verwandlungsdek

Demonstranten sind bei Auseinandersetzungen mit der Polizei festgenommen worden. Jetzt befinden sie sich barfuß, eingeschüchtert, mit gespreizten Beinen an einer Zellenwand stehend. Der Mann, ein Doktor aus Heidelberg, ist verwirrt. Er wird von einem autoritären Vernehmungsbeamten in die Mangel genommen. Der junge Mann und das Mädchen unterhalten sich in der Zelle. Einer der Polizisten hat auf der Demo einige Schläge eingesteckt. Doch viel mehr als unter seinen körperlichen Verletzungen leidet er unter der Trennung von seiner Frau und seiner Tochter, die ihn verlassen haben. Gleichgültigkeit und Spott seiner Kollegen sind Anzeichen der unmenschlichen, zynischen Atmosphäre auf dieser Polizeistation. Als die halbwüchsige Tochter des Polizisten schließlich als Häftling auf der Wache erscheint und mit dem skrupellosen Beamten flirtet, ist der Außenseiter der Verzweiflung nah.

Die drastische Darstellung der genüsslich praktizierten psychologischen Machtrituale der Polizisten, die sich gegen alles richten, was unterlegen zu sein scheint, also auch gegen den leidenden Kollegen, ist wirkungsvoll kontrastiert mit einer lyrischen Ebene. Allein mit sich spricht jede der Figuren einmal ihre Wahrheit aus. "Außerhalb von Raum und Zeit" befindet sich eine namenlose Frau, vielleicht die Frau des verlassenen Polizisten, deren »Gesang' das Geschehen auf der Polizeistation unterbricht und transzendiert. Es ist ein memento mori, Rückblick auf eine Liebe, ein Vergehen in der Natur, in Erwartung der anderen, die früher oder später auch dorthin müssen: nach Ultima Thule.

Theater
Hansjörg Schertenleib

Rabenland

2 D, 7 H, 2 Dek

Zwei Welten, ein Bahndamm, Treffpunkt der einsamen Jugendlichen Block, Ferse, Watte und dem Mädchen Palme. Dagegen die Familie: Vater, Sohn, Tochter, der Freund. Im Hintergrund kaum zu sehen, das Heim für Asylsuchende. Block, Ferse, Watte und Palme stehen den Neonazis nah. Fremdenfeinde. Aggressiv gegen jeden, der ihnen vermeintlich zu nahe tritt. Sie schließen sich zu einer Gruppe zusammen, mit Block als Führer. Ihre anfangs nur verbalen Attacken gegen die Ausländer gipfeln schließlich in einem brutalen Anschlag auf das Heim der Asylsuchenden, wo die Tochter arbeitet. Es gibt Tote, und die Tochter muss als Krüppel im Rollstuhl ihr Leben verbringen. Die Täter aber werden freigesprochen. Die Familie schwört Rache, und es gelingt den drei Männern, Palme in ihre Gewalt zu bringen, die sie zu einem Geständnis zwingen wollen - ebenfalls mit brutalsten Mitteln. Von den Kumpels im Stich gelassen, unternimmt Watte, der Außenseiter der Gruppe und in Palme verliebt, den Versuch, das Mädchen zu befreien. Er dringt in das Haus der Familie ein. Als Vater, Bruder und Freund hinzukommen, kommt es zu einem Handgemenge um Wattes Handgranate. Das Bild friert ein, Watte zieht die Handgranate ab und hält sie starr in die Höhe.
Hansjörg Schertenleibs Rabenland beschreibt die Zustände, ohne seine Figuren zu denunzieren. Sie wissen wenig voneinander, und in der Begegnung kommt es sofort zur Konfrontation. Hansjörg Schertenleib zeigt nicht nur die Aggressivität der vier Jugendlichen, sondern auch die Bereitschaft der Bürger zur Selbstjustiz, wenn sie sich vom Gesetz im Stich gelassen fühlen.

UA Frei
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Hansjörg Schertenleib

Radio Kashmir

3 D, 5 H

Damals verband sie die Liebe zur Musik. Heute verbindet sie nur noch die gemeinsame Erinnerung. 25 Jahre nach dem Auseinandergehen von Radio Kashmir, dem Kult-DJ-Team eines Jugendclubs, wird das einst gegebene Versprechen eingelöst, sich im 40. Lebensjahr erneut zu versammeln. Die aufeinandertreffenden Sechs haben sich verändert und doch ist alles gleich geblieben. Die kleinen Freund- und Feindschaften von damals bahnen sich schnell wieder ihren Weg. Was wie eine Hommage an vergangene Zeiten beginnen sollte, endet mit einem Debakel. Nach und nach bröckelt die Farbe von den kunstvollen Fassaden. Radio Kashmir ist ein Stück über den unaufhaltsamen Verfall jugendlicher Ideale, über Lügen, Geständnisse und ... Musik. Wie ein Mahnmal für den Zusammenhalt und die Unbeschwertheit vergangener Zeiten werden ein ums andere Mal die Lieder von Radio Kashmirs Toplist gespielt. "Von A wie Alice Cooper über M wie John Mayall - und T wie Tangerine Dreams bis Z wie Zappa."
Doch die Musik vermag nicht zu verdecken, was offensichtlich wird. Gescheitert sind sie alle, die einen mehr, die anderen weniger. Dem Gastgeber Bruno allerdings wird der Abend zum Verhängnis. Penibel darauf bedacht, den anderen das perfekte, luxuriöse, unabhängige Leben vorzuspielen, muss er am Ende einsehen, daß seine Scheinwelt nicht imponierte. Die Erkenntnis, vor den Freunden versagt zu haben, läßt ihm keine Wahl.
In Radio Kashmir zeigt sich die tragische Komik des Lebens. Schein und Sein bekommen in den besten Jahren eine andere Bedeutung. Da kann auch der ständig kreisende Joint keine Abhilfe mehr schaffen...

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