Caren Jeß & Matthew Lopez & Nele Stuhler

Vom Glück der maßlosen Überforderung

In den letzten Wochen wurden so viele Stücke und Autor:innen quer durch die Republik gefeiert, fanden so viele Festivals mit beeindruckenden Lesungen, Inszenierungen und Begegnungen statt, dass allein durch diese beglückende Überforderung für Friederike Emmerling eines mal wieder völlig klar wurde: Neue Dramatik ist unentbehrlich herrlich.

 

Als ob sich mit freudig ungezügelter Ekstase entlud, was während der Coronajahre übervoll sich an Gedanken, Worten, Lauten staute - so fühlte sich auch die Lange Nacht der Autor:innen am Deutschen Theater Berlin an. Denn diese Nacht war in der Tat seeeeeehr lang und prall bestückt mit herrlicher Dramatik von Caren Jeß, Nele Stuhler und Lukas Bärfuß, darüber hinaus ein Fest der Begegnungen, von allem so viel und viel zu viel und köstlichst-herbe Überforderung, der Kopf ein wildes Wirbeln, der erst in den frühen Morgenstunden langsam wieder zur Ruhe kommen konnte. Den Auftakt machte Caren Jeß mit ihrem PUNKstück DEM MARDER DIE TAUBE in der Regie von Stephan Kimmig, ein zärtlicher, ein wütender, ein tobender Aufruf, das Widersprüchliche zu feiern und die Abgründe jedes Menschen als das zu begreifen, was sie sind: existentiell - auch und besonders für die Kunst. Der Tagesspiegel schwärmte, dass das Stück in brüchige Lebensentwürfe wie in die Stadtfauna leuchte, Skurriles entdecke, sich wieder abwende und dabei herrliche Sätze zurücklasse, wie zum Beispiel: „Eine Pause drängt sich zwischen die beiden wie ein schnaufender stinkender Mann.“ Die Abgründe, die sich ab und an  im Theaterbetrieb auftun, legt Nele Stuhler mit befreiender Lust am klugen Klamauk in GAIA AM DEUTSCHEN THEATER (GÖ)" in der Regie von Sarah Kurze frei. Denn im dritten Teil ihrer Trilogie soll auch das Theater als letzter Hort der Menschheit von Gaia abgeschafft werden. Doch Gaia hat die Rechnung ohne die Hybris der Theatermenschen gemacht. Aus dieser Begegnung entsteht ein großer doppelgründiger Spaß, eine gnadenlos komische Abrechnung mit dem Theater, die - natürlich - mit einem Glas Sekt auf und hinter der Bühne enden muss! “Herrlich komische Unterhaltung ist das, schauspielerisch ein Vergnügen und in der Inszenierung von Sarah Kurze ein (wenn auch überlanges) Feuerwerk an Einfallsreichtum.”, jubelte der Freitag. Und kaum war die Lange Nacht vorbei, eroberte zwei Wochen später DAS VERMÄCHTNIS von Matthew Lopez (in der Übersetzung von Hannes Becker) Berlin!  Das Münchner Residenztheater war zu Gast mit der deutschsprachigen Erstaufführungsinszenierung von Philipp Stölzl. Bei strahlendem Sonnenschein wurde das Theatertreffen mit diesem theatralen Großereignis eröffnet. Nach fast sieben Stunden gab es Standing Ovations für ein grandioses Münchner Ensemble und für "Ein blitzwaches, aufgeklärtes Well-made-Wunder.", wie die Berliner Zeitung befand. Parallel fand in Heidelberg ein wunderbarer Stückemarkt mit Svealena Kutschke, Caspar-Maria Russo, Leonie Lorena Wyss und vielen anderen statt (siehe Johanna Schwung), außerdem wurde in Mülheim der Auftakt für die 48. Mülheimer Theatertage gefeiert, bei denen Katja Brunner, Caren Jeß und Roland Schimmelpfennig mit ihren Stücken zu sehen sind.  Ein Sirren und Flirren überall, eine große Aufregung, ein Vibrieren und zum ersten Mal auch ein Miteinander all derer, die die neue Dramatik fördern und fordern, ein Netzwerktreffen zur Stärkung der zeitgenössischen Dramatik als Abschluss der Autor:innentheatertage am Deutschen Theater Berlin, ein gemeinsames Nachdenken darüber, wie all diese Freude und Begeisterung und Energie weitergetragen werden kann, wie sie wachsen kann und wuchern und begeistern und wie die zeitgenössische Dramatik auch von einem noch viel breiteren Publikum als das wahrgenommen wird, was sie ist: Unentbehrlich herrlich.


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