Wolfram Lotz & Milena Michalek

»Diese Erdnussfanatik ist also ein höchstneurotischer Vorgang«

»Diese Erdnussfanatik ist also ein höchstneurotischer Vorgang«(c) André Simonow

Am Theater Trier wurde am 9. Februar der Else-Lasker-Schüler Dramatikpreis an Wolfram Lotz verliehen. Die Ministerpräsidentin des Landes Rheinland-Pfalz, Malu Dreyer, überreichte die mit 10 000 Euro dotierte Ehrung für dessen „herausragendes Gesamtwerk“. Angemessen gepriesen, wurde er zu diesem schönen Anlass von unserer Autorin Milena Michalek, deren “Ladautio für Wolfram” die Ehrung zu einem Fest der Sprachkunst machte. Wie sich das anhörte, ist hier nachzulesen.

 

Liebe Leute, lieber Wolfram, hey ! Liebe Else Lasker-Schüler, lieber Preis, liebe Leute, die  entschieden haben, dass Wolfram den bekommt, liebe andere Preisträgerinnen ! 

 

Ich habe spontan Lust eine sehr unverkrampfte Loblautkunduung auf Wolfram Lotz zu  machen, und weil das so ist, mach ich das jetzt auch, weil es gemacht werden soll.  

 

Es ist ja so eine Sache mit Preisen.  

Es ist immer schön sie zu bekommen und auch wenn sie Leute bekommen, die man toll  findet. Und gleichzeitig sind sie natürlich auch Ausdruck einer Art Einzelkünstlerverehrung,  gegen die ich bin, auch wenn ich mich eben da selber nicht rausnehmen kann in dieser  Verehrung und JA ich bin auf einen Berg gewandert in einem Entwurf meiner Selbst als  kultische Wanderin, um dort oben DIE HEILIGE SCHRIFT 1 von WOLFRAM LOTZ zuende zu  lesen. Und als ich oben war, war dort eine Baustelle am Berggipfel und ein Tropfen  BAUMHARZ ist mir auf den Kopf getropft, von dem ich kurz dachte, es wäre eine Zecke. 

 

Jetzt weiß ich nicht weiter.  

 

Und was tut man nun, wenn man nicht weiter weiß?  

Richtig genau, man fragt wen.  

 

Ich rufe meine Regieassistentin Matthias an, Matthias hat mir assistiert als ich mit 4 meine  erste Tanzoper inszeniert habe damals in Stuttgart in den 90er Jahren. Und Matthias sagt:  Erinner dich Milena, erinner dich, wir hatten eine Vorabfassung von der Lächerlichen  Finsternis bekommen, ich war 19 und in einem Raum mit Leuten, von denen ich mir absolut  sicher war, dass sie die coolsten Theaterleute der Gegenwart sind, wir lesen das Stück,  danach ist da irgendwie diese komische und etwas peinliche ehrfürchtige Stille, auf die  eigentlich niemand wirklich Lust hat und die die Gewissheit in meinen Körper legt, dass das  gerade ein wirklich guter Text war.  

(Und das muss jetzt noch dazu gesagt werden, weil sonst versteht das ja niemand aus dieser  Skizze: zu dieser Zeit fand ich absolut keinen Text „gut“. Guten Text gab es einfach nicht,  guten Theatertext gab es irgendwie nicht, als ich 19 war und du Milena 4, guten Theatertext  gab es nicht, bis ich einen von Wolfram Lotz gelesen habe. Und jeder folgende Theatertext  misst sich seitdem an Wolfram Lotz. Und grad weil das die Wahrheit ist, meine kleine auch  unbedeutende Wahrheit natürlich klar, trotzdem eben eine Wahrheit, kann ich das doch  nicht einfach sagen in einer Form wie einer Laudatio, die genau das ja auch noch gerne  hören würde, dass ich das sage, sagt Matthias etwas kleinlaut.) 

 

Als nächstes frage ich die continuity-Beauftragten beim Film, weil es erscheint mir ganz  richtig, jetzt die continuity-Beauftragten beim Film zu fragen. 

Die continuity-Beauftragten beim Film sagen, diese Texte von Wolfram Lotz werfen sich in  die Notwendigkeit des Erzählens und misstrauen gleichzeitig jeder Erzählung. Es gibt dort ein  Erzählen durch diese extrem verkomplizierte informationsmäßig zerschleuderte Gegenwart  hindurch oder eher in dieser verkrumpelten Gegenwart umhergehend erzählendes Erzählen  OHNE das Krumpelige, das ja immer auch über die Erzählung hinausschießt, da nicht ganz  reinpasst, irgendwie auch nur eine Sekunde lang aus dem Blick zu verlieren. Und da muss ich dann doch nochmal nachfragen, was die damit genau meinen und da sagen  sie, wir heißen ja continuity-Beauftragte beim Film, weil wir uns darum kümmern, dass am  Ende alles möglichst so aussieht als ob es wirklich hintereinander geschehen ist, was nicht  wirklich hintereinander geschehen ist. Jede Erdnuss muss bei jedem neuen Take wieder an  den gleichen Platz gelegt werden, sonst wäre sie im nächsten Schnitt WEG und alle würden  wissen, dass dort eigentlich Zeit vergangen ist, wo die Erzählung ja behauptet, dass keine  Zeit vergangen ist. Zeit, in der eine kleine Maus diese Erdnuss weggesnackt hat. Deshalb  muss die Erdnuss von uns continuity-Beauftragten streng bewacht und im schlimmsten Fall  (im Falle der Wegsnackung also zum Beispiel) ersetzt werden. Und da es aber neben  Erdnüssen auch noch ein zwei Millionen andere Dinge an einem Filmset gibt, ist dies ein  immenser Aufwand. Diese Erdnussfanatik ist also ein höchstneurotischer Vorgang. Und er ist  überall anzutreffen: Im Feuilleton-Wir, im mit Hintergrundmusik unterlegten, authentischen  Erfahrungsbericht, in der Kriegsberichterstattung. 

Und auf höchstneurotische Vorgänge zur Produktion von Kontinuität, was soll darauf  erwidert werden, wenn nicht nochneurotischere Akribie in der Verbiegung und Zerknipsung  dieser vermeintlichen Kontinuität? 

 

Im Kern sind diese Texte ernst, sagt Matthias.  

Mir ist das irgendwie wichtig zu sagen, weil ich wähne, dass es da Missverständnisse gibt.  Im Kern ist das kein Klamauk, kein Sarkasmus, Ironie klar, weil ohne Ironie könnte ja sowieso  nie in das widersprüchlich verfasste Wesen irgendeines Dings vorgedrungen werden, ernste  Ironie, „heiliger Unernst“ wirft Susan Sontag ein, die gerade an ihrem Buch „Krankheit als  Metapher“ schreibt, in dem es um Krebs und Tuberkulose als politische Metaphern für das  Böse geht. Sie zeigt auf die Stücke von Wolfram und jubiliert, ich weiß nicht wie ich weiß  nicht wie, aber in diesen Texten wird die Metapher als Gedankenoperation zärtlich und  manisch aus dem Sprachgebrauch herausgemeißelt. Krankheit und Krieg stehen in diesen  Texten keinem metaphorischen Gebrauch mehr zur Verfügung. Und das Böse scheint dort  nur noch als das auf, was das Böse ebend ist: eine Erzählung, eine Erzählweise zur  Verflachung von Wirklichkeit. Und damit e n t f ä l l t die Option es in eine Ideologie  einzuspannen wie einen blöden Schlittenhund. (Natürlich ist nicht der Schlittenhund blöd, sondern das Einspannen des netten Schlittenhundes !) Es e n t f ä l l t einer Logik, die einfach  überall in jeder Erzählung als Grundmotiv am Start ist als binärer Code wie 0 - Schweins,  Mann - Pfau, Hell - Ginster, man kennts. Die Grundmatrix jeder Erzählung Gut - Böse, diese  Matrix wird in den Texten von Lotz brutal verkitzelt, dramatisch verflirrt, auf kunstvollste Art  verbogen, ich weiß nicht wie ich weiß nicht wie. 

Und was heißt es für dich als Schreibender, Matthias, dass du Wolframs Texte gelesen hast?  Wolfram Lotz gelesen zu haben heißt, seitdem eine Maus bei sich wohnen zu haben, sagt  Matthias. Diese Maus huscht durch die Depression der Schreibtischödnis und ruft kichernd, halt halt Depression ist doch hier wieder mal viel zu leichtfertig hingeschrieben worden  schreib doch das nicht so leichtfertig hierhin. Dieser Körper ist doch nie ein einfach  depressiver Körper, da ist doch immer auch noch was anderes los. Was ist da los? Das wäre  erstmal zu klären. Weil geklärt werden kann sowieso nichts, also klär mal ! Klär doch mal was  da los ist! ruft sie bevor sie mit der Erdnuss in der Ritze verschwindet.  

 

Ich frage meine Surflehrerin Sabine, wie ich das verstehen soll, und sie ruft mir zu durch den  Wind und die Haare, die einem ständig ins Gesicht plautzen, ruft sie, diese Texte sind eine  Anstiftung zur Bewegung. Sie sagen: bewege dich Körper, geh hinaus, schau hin, stocher ein  bisschen im Gestrüpp mit einem langen Stock, LASS EIN BISSCHEN WIND ZWISCHEN DIE  VERSCHWITZTEN LAKEN huschen, folge mit deinem Blick lieber der Schwalbe und stiere  nicht den holzigen Balken da an, der da so starr vor dem Fenster steht,  aber ehre den Balken !  

Ehre den Balken, indem du um ihn herumtanzt, heimlich, so dass dich niemand dabei sieht,  vielleicht auch nur mit den Augen! Diese Bewegung, die durch jeden Text hindurchrauscht  wie der große Marsch, der ja selbstredend eine Bewegung ist, aber auch die Explosion in der  Einige Nachrichten an das All stattfinden und die schlingernde Fahrt auf dem Hindukusch in  die Lächerliche Finsternis, das sind alles Bewegungstexte, alles.  

 

Ich befrage die Katze, die auf der gegenüberliegenden Straßenseite herumschleicht, zu  Wolfram, wie sie ihn findet und welches Stück sie am liebsten mag und die Katze  ANTWORTET NATÜRLICH NICHT, sie zeigt mir einen Vogel, den sie gerne fangen würde, aber  er ist in letzter Sekunde entwischt, ha ! 

 

OFFENHEIT  

Es wäre jetzt noch zu sagen vielleicht, auch wenn ich höchstvermutlich ein bisschen über die  Zeit gerate, ob es nicht eine Möglichkeit wäre, dem Einzelkünstlerverehrungsdings, in dem  ich selbst ja komplett drin steck, beizukommen, indem man Wolfram Lotz als Bewegung  beschreibt. Und das meine ich eben jetzt NICHT metaphorisch. Die Wolfram Lotz Bewegung  meint die Suche nach der schönen infamen Wahrheit in einer Guten Frage auf Gute Frage.de, sie sucht nach dem Knick in der konventionellen Form, die die Konvention an der  Form sichtbar macht, wie die Erdnuss, die von den continuity-Beauftragten übersehen  wurde, die zeigt: hier ist also doch Zeit vergangen. Sie sucht nach dem Moment, in dem die  Wirklichkeit einen kleinen Ausfallschritt von dem weg macht, wovon alle dachten, (alle, was  immer nur heißt die meisten,) dachten jedenfalls, SO wird’s weitergehen, das ist der logische  nächste Schritt, natürlich wird die Hexe jetzt gleich eine Warze auf der Nase tragen, der  Frosch etwas quaken und der Skifahrer in der Hängematte liegen und dann ist es eben  immer ganz ganz ganz anders, und alle oder die absolut meisten müssen dann hinschauen,  was da ist. 

Und das ist halt irgendwie diese extrem politische Dimension in dem Ganzen. Dass die aus  der Vergangenheit heraus in die Gegenwart zerschleuderten Dingsis in Wolframs Texten so  in Erscheinung treten, dass ihre eigene Erzähltheit deutlich wird, aber eben auf eine sanfte  Art, wie laut, wie krachend, wie scheußlich die Dinge, die da passieren in den Stücken, von  denen erzählt wird, sind, das ist immer eine sanfte Verrückungsoperation, die Wolfram da  

mit den Erzählungen und auch den Figuren betreibt und dadurch eben erst dadurch entsteht  dieser Spalt, durch den die Zukunft als offene und neu vorstellbare Zukunft erscheint. Und  genau. Das ist eben extrem politisch. Politischer als jede Satire oder Textfläche (ich hab aber  auch wirklich nichts gegen Textflächen ! Wollt ich auch noch sagen, Textflächen sind super  und manchmal schlimm, wenn sie die zerschleuderte Fragmentierung durch die gewandert  wird einfach nur wiederholen formal, denn das wird eben nie den Spalt ermöglichen, den  Wolframs Texte ermöglichen: die Möglichkeit in den verkrachten Verhältnissen, die die  eigenen Körper (ich habe mehrere !) durchziehen, Manöver durchzuführen, die die  Konvention zerruckeln und neue Erzählung von neuer Zukunft zu erspechteln. 

 

Und in puncto Einzelkünstlerverehrung wäre noch zu sagen, dass ich zuletzt bei René  Pollesch nochmal gelesen habe, was eben die Wahrheit ist, die ich selbst ständig vergesse,  dass nämlich denken alleine nicht geht, im Gegenteil zum Sprechen, was eben ziemlich gut  alleine funktioniert. Und das wollte noch dringend in diese Gelegenheit vor vielen Menschen  zu sprechen hinein, dieser René Pollesch äh diese Wahrheit. Man könnte das an Wolfram  Lotz‘ Texte anbinden, indem man sagte, dass sie immer auch eine Einladung sind mit ihnen  zu denken, mit dem Text, der da vor sich hinspricht in eine Verbindung zu treten und eine  geteilte Weltbetrachtung zu entwickeln. Man könnte es auch anbinden indem man sagte,  dass so sehr es stimmt dass Wolfram Lotz diese Texte geschrieben hat, so sehr auch stimmt,  dass dieses Sprechen, das da in diesen Texten passiert immer auch Resultat aus einem  Denken das Wolfram mit anderen Dingen, Menschen und Texten angestellt hat und all  diesen Dingen, Menschen und Texten gratuliere ich, so wie Wolfram sehr sehr herzlich zu  dem tollen Preis ! 
Und jetzt  
ist es noch nicht vorbei. 

 

Das ist irgendwie das irre an den Texten, dass die, so raunt es mir mein Hausmeister Herr  Kimmerle zu, obwohl sie sorgfältigst die Form jedes erzählenden Sprechens zerknapsen,  obwohl eine ganze Poetologie nur zu den einzelnen Wörtern schreibbar wäre, sie also eine  eigene Sprache sind, das ist das irre, meint Herr Kimmerle und fuchtelt mit der Heiligen  Schrift 1 vor meiner Nase herum, dass hier ein Sprechen mit den Dingen stattfindet und zwar  so, dass die Dinge stattfinden. In diesem schmalen Büchlein hier, sagt Herr Kimmerle noch,  geht es ja überhaupt nicht um einen Einzelkünstler in seinem Krisenkörper, sondern es geht  um ein Sprechen mit der Welt, das ist eine große Hirnöffnungsbewegung, stimmt meine  Surflehrerin ihm zu, die gerade vorbeisaust. 

Da ist eine Autonomie und da ist eine Sehnsucht nach Inkonsequenz. Eine Autonomie also,  die immer um ihre eigene Unzulänglichkeit weiß und daher das Offene sucht, dasjenige, das  die Erzählung nicht beendet, das Werk nicht abschließt, die Tür immer einen Spalt offen lässt  und sagt: Hallo ! Ihr da draußen alle, die ihr hier nicht seid, aber doch da seid, hallo hallo hallo!


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