Theater

Fokus

Friederike Emmerling, Ungehaltene Reden ungehaltener Frauen, Kassel 2025

Das ICH! erwacht hundertfach

Die Stiftung Brückner-Kühner und der Verlag S. Fischer Theater und Medien haben auch in diesem Jahr Frauen dazu eingeladen, sich mit einer ungehaltenen Rede zu bewerben, um als eine von sechs Rednerinnen am 10. Dezember 2025 – Tag der Menschenrechte und Geburtstag der Schriftstellerin Christine Brückner – das Wort ergreifen zu können. Die Auftaktrede von Friederike Emmerling finden Sie hier. Weitere Informationen und die Ungehaltenen Reden finden Sie unter: ungehalten.net

Elf Frauen stehen lächelnd in einem Festsaal hinter einem Holzpult. Viele halten Blumensträuße. Im Vordergrund stehen rote Weihnachtssterne; die Szene ist festlich beleuchtet und wirkt gemeinschaftlich. © Johanna Schwung

Es gibt eine Dehnübung,
bei der die Arme
weit zur Seite geöffnet werden.
Sie breiten sich aus wie Schwingen,
das Herz liegt frei.
Das fühlt sich aufregend schön,
gleichzeitig verletzlich an.
Wie die ungehaltenen Reden.
Auch sie gehen ins Offene,
ihr Herz liegt frei.

Wer hätte vor vier Jahren
am 10. Dezember 2021

– dem 100. Geburtstag von Christine Brückner
und mitten im Lockdown,
weshalb wir uns
statt eines tatsächlichen Publikums das Digitale vorstellen mussten
– und selbst das schon unglaublich aufregend war…

Wer hätte damit rechnen können,
dass fünf Jahre später
über 700 Frauen
ungehaltene Reden eingereicht haben würden.
Dass die Veranstaltungen in Kassel und Frankfurt
jedes Jahr aus allen Nähten platzen würden.
Dass die Fotografin Anja Köhne den Ungehaltenen
eine eigene Kunstausstellung widmen
und die Universität Tübingen
im Wintersemester 25/26 ein Seminar mit dem Titel
„Ungehaltene Reden ungehaltener Frauen – eine Stimme finden und erheben“
anbieten würde?
Wer hätte damals gedacht,
dass diese ungehaltenen Reden
wie gemacht sein werden
als großzügige Einladung an eine Welt,
die sich immer stärker
in übersteigerter Härte
und Drohgebärden gefällt.

Und obwohl sich das alles
nach einer richtig tollen
Erfolgsgeschichte anhört –
sind wir immer noch ein kleines
No Profit at all-Projekt,
dem Anfang des Jahres
-
fatalerweise
im Rahmen der Kulturkürzung
die Unterstützung durch das Hessische Ministerium für Soziales und
Integration gestrichen wurde.
Einige Monate wussten wir nicht,
ob wir wirklich
heute Abend
hier stehen würden.
Aber – here we are!!!
All das wäre heute niemals möglich
ohne all die Leute,
die sich mit solcher Leidenschaft
den Ungehaltenen verschrieben haben.
Gleichzeitig wäre all das
völlig vergeblich,
wenn es zwar eine ungehaltene Rede,
aber Sie nicht gäbe,
liebes Publikum!
Sie haben uns nämlich
in den letzten Jahren gezeigt,
was für eine große und ermutigende Kraft
aufmerksames Zuhören schafft.
Unterschätzen Sie nie,
wieviel Halt Sie
alle – gemeinsam 
den Rednerinnen geben.
Danke, dass Sie so zahlreich 
versammelt sind.

Das nächste Buch heißt schlicht ICH!.
Christine Brückner legte
diesen Ausruf der Dichterin Sappho in den Mund.
Sapphos ICH!
in Großbuchstaben und mit Ausrufezeichen
liest sich wirklich
wie eine rhetorische Selbstermächtigung:
Ich bin stark,
relevant
und lebendig.

Besser lassen sich die ungehaltenen Rednerinnen nicht beschreiben!

Unsere nächste Anthologie
wird zwar kleiner sein
als im vergangenen Jahr,
ein Taschenbuch.
Aber –
es wird das kostbarste Buch dieser Reihe sein.
Weil die Ungehalten-Reihe eigentlich eingestellt werden sollte.

Dass es sie trotzdem geben wird,
liegt auch an den Ungehaltenen selbst.
Sie haben mit uns für dieses ganze Projekt geworben, gesammelt und gespendet.
Dank vieler kleiner und einer Großspende von Heikedine Körting
hat die Stiftung das Buch schlussendlich selbst finanzieren können.
Es erscheint Ende Februar
und ist zwar „nur“ ein Taschenbuch,
aber dafür ganz und gar ungehalten.

Die Buchpremiere ist am 8. März im Frankfurter Museum für Kommunikation.
Freuen Sie sich schon darauf.
Und bis dahin kaufen Sie unbedingt
verschlingend viele ungehaltene Bücher,
verschenken Sie das Ungehaltensein zu Weihnachten,
und zum Neuen Jahr…
Es war
und ist das beste Invest in das Fortbestehen unserer Ungehalten-Anthologie.
Weil hohe Verkaufszahlen einfach ein unschlagbares Argument sind…
Und wenn Sie sich gerade denken,
ich will mir selbst noch viele, viele ungehaltene Reden schenken,
dann unterstützen Sie uns gerne mit Spenden,
das geht jetzt zum Glück auch mit nur einem Mausklick,
weil wir mittlerweile eine Ungehaltene-Crowdfunding Plattform eingerichtet haben.

Leider müssen wir für Kassel eine Auswahl treffen.
Und für das Buch.
Und es ist klar,
dass viele Rednerinnen enttäuscht sind,
weil sie bestimmt auch gerne
heute hier gestanden hätten.

Liebe ungehaltene,
aber heute nicht eingeladene Rednerinnen,
Liebe ungehaltene,
aber bislang noch gar keine Rede eingereicht habende Rednerinnen,
Lasst euch nicht entmutigen!
-
Haltet eure Reden trotzdem!
Haltet sie vor Familien, Freundinnen, Bekannten.
Ladet eine Person dazu ein
oder zehn.
Lasst euch einladen –
Macht eure Reden zu dem, was sie sind:
eine Einladung zum Gespräch mit weit geöffneten Armen.
Stellt euch vor,
was wohl wäre,
wenn jede Frau auf dieser Welt
ihre ganz persönliche „ungehaltene Rede“
hält?
Wenn dieses „ICH!“
in Hunderten,
Tausenden,
Millionen,
ach was, Milliarden
von Haushalten
ungehalten spricht?
Das wäre eine Sensation,
aber schon
keine unvorstellbare mehr.
Es wäre eine großzügige Revolution

eine Revolution des gegenseitigen Festhaltens

eine Rebellion mit weit geöffneten Armen.

Wer behauptet,
dass das Private nicht politisch ist,
irrt.
Nichts ist unpolitisch,
schon gar nicht das Schweigen.

Wir können dem Wahnsinn dieser Welt etwas entgegensetzen.

Uns.
In unserer ganzen Vielfalt.
Dazu braucht es nicht viel:
Reden und öffnen.
Zuhören und öffnen.

Und deshalb komme ich jetzt
zum eigentlichen Anlass dieser Veranstaltung:
Liebe Ungehaltene,
Barbara Peveling
Alice Rugai
Christine Sterly-Paulsen
Jana Petersen
Eter Hachmann
und
Mechthild von Lutzau

Ergreift das Wort und lasst das ICH! erwachen!
Wir erwarten euch mit offenen Herzen und weit geöffneten Armen!
 

© Elvira Zickendraht

Christine Brückner

Christine Brückner wurde 1921 als Pfarrerstochter geboren. Sie studierte Germanistik, Psychologie und Kunstgeschichte, während sie ihren Lebensunterhalt als Köchin, Kantinenleiterin, Buchhalterin und wissenschaftliche Mitarbeiterin am Kunstinstitut Marburg verdiente. Im Alter von zweiunddreißig Jahren veröffentlichte Christine Brückner ihren ersten Roman: Ehe die Spuren verwehen.

Im Jahr 1983 brachte Christine Brückner bei Hoffmann & Campe das Buch Wenn du geredet hättest, Desdemona. Ungehaltene Reden ungehaltener Frauen heraus. Es handelt sich dabei um zunächst 11, in der Ullstein-Taschenbuch-Ausgabe dann 14 Monologe, die die Autorin Frauen aus Geschichte und Literatur in den Mund gelegt hat: von Klytämnestra und Sappho über Katharina von Bora, Desdemona und Effi Briest bis zu Eva Braun, Gudrun Ensslin und einer Ungeborenen.

„Christine Brückner setzt das jahrhundertelang übliche Bezugsverhältnis zwischen Männern und Frauen voraus, um es danach in seiner Absurdität sichtbar zu machen. Und wie das geschieht – mit wieviel Schalksinn, Einfallsreichtum und amüsantem Umkehren aller Verhältnisse!“, so Walter Jens in seiner Rezension des Buches.

Gedacht waren die Texte auch als Theatermonologe. Sie wurden nicht nur als Lektüre, sondern auch auf der Bühne ein großer Publikumserfolg. Das Buch verkaufte sich im oberen sechsstelligen Bereich, und in den 1980er Jahren war Christine Brückner mit diesen Texten an Theatern auch eine der meistgespielten deutschsprachigen Autorinnen. Bis heute wird das Buch häufig erworben und werden die Monologe vielfach gespielt.

Zu ihren Lebzeiten (1921-1996) gehörte die Schriftstellerin Christine Brückner zu den meist gelesenen Autorinnen Deutschlands. Ihr umfangreiches Werk umfasst Romane, Erzählungen, Aufzeichnungen, Hörspiele und Theaterstücke. 1984 stiftete sie mit ihrem Mann, dem Schriftsteller Otto Heinrich Kühner den „Kasseler Literaturpreis für grotesken Humor“ und gründete die Stiftung Brückner-Kühner. Sie wurde vielfach ausgezeichnet und ist Ehrenbürgerin der Stadt Kassel.

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