Theater
Fokus

Christine Brückner & die ungehaltenen Frauen

Dieses Buch wütet

Jede Frau, die zu reden beginnt, lädt dazu ein, ihr zu folgen. Das Schweigen wird beendet. Und bei aller Wut beginnt hier ein Leuchten. „Sag jetzt nichts, lass mich zu Ende reden. Neue ungehaltene Reden ungehaltener Frauen“ erschien mit Furor bei S. Fischer und feierte am 8.3. 2023 eine überwältigende Buchpremiere im Museum für Kommunikation Frankfurt. Aus dem Vorwort von Friederike Emmerling

Gruppenfoto mit den Rednerinnen und Moderatorinnen © Alexander Paul Englert

Dieses Buch wütet. Das werden Sie merken, sobald Sie die erste Rede aufgeschlagen haben, und danach die zweite, die dritte, die vierte. 24 Reden von 24 ungehaltenen Frauen. „Sag jetzt nichts, lass mich zu Ende reden“, verlangt der Titel. Ein selbstbewusster Satz, aber auch ein ungehaltener. In den 1980er Jahren schrieb die Autorin Christine Brückner ihn in ihr Buch mit dem Titel: „Wenn du geredet hättest, Desdemona. Ungehaltene Reden ungehaltener Frauen“. Sie entwarf fiktive Reden für Frauenfiguren aus der tatsächlichen, der literarischen und der mythologischen Geschichte. Damit lenkte sie den Fokus auf jene, die ansonsten eher eine Nebenrolle einnahmen. Die Gruppe ihrer Ungehaltenen reicht von Klytämnestra über Maria zu Katharina Luther, Christiane von Goethe, Effi Briest, Gudrun Ensslin und vielen anderen. Das Buch wurde ein großer Erfolg. Ungehalten blieben die Reden nicht lange, sie wurden am Theater immer und immer wieder gespielt. Doch eine Sehnsucht blieb: Zu hören, was die echte Katharina Luther, geborene von Bora, zu sagen gehabt hätte. Eine Veranstaltung, die 2021 zum 100. Geburtstag von Christine Brückner im Kasseler Rathaus stattfand, sollte das ändern: Ungehaltene Reden ungehaltener Frauen, die vor Publikum gehalten wurden. Einer Ausschreibung folgten zahlreiche Frauen und reichten Videos ihrer Reden ein. Das Ergebnis war und ist überwältigend und auf www.ungehalten.net zu sehen. Gemeinsam ergeben diese Reden ein gewaltiges Mosaik aus mutigen Stimmen. Sie sind sehr verschieden, biographisch, politisch, komisch, traurig, literarisch, pragmatisch, verletzbar und manchmal auch verletzend. In breiter Vielfalt stehen sie nebeneinander, ergänzen und widersprechen sich und entwickeln gerade durch das Unabgestimmte und Mutige eine berührende Schönheit. Die Reden in diesem Buch könnten unterschiedlicher nicht sein. Eine fordert Frieden ohne Waffen und eine andere Waffen für den Frieden. Eine Mutter schließt die Augen, während eine andere immer weiter rennt. Eine kämpft mit dem eigenen Körper, eine andere mit Gewalt in der Familie. Eine zerbricht an den Erwartungen, eine andere wütet wie eine Furie. Aber gerade das Nebeneinander hilft zu verstehen. Wenn all diese Frauen reden und zuhören, wenn wir einander zuhören und miteinander reden und reden und zuhören, knüpft sich ein starkes Gewebe aus Worten, Erfahrungen und Verständnis. 2022 wurden die ersten ungehaltenen Reden als Schwerpunktthema in der Literaturzeitschrift Neue Rundschau abgedruckt. Was als ungehaltenes Frauenbuch gedacht war, entpuppte sich als feministischer Tiefpunkt. Das Buch begann zwar mit ungehaltenen Reden, im zweiten Teil befanden sich aber ausschließlich männliche Texte. Ein Missverständnis par excellence, einzig dadurch gerettet, dass das eigene Scheitern in einem ungehaltenen Vorvorwort offengelegt wurde. 2022 gab es wieder eine Ausschreibung. Viele neue ungehaltene Reden sind entstanden. 24 sind in diesem Buch zu lesen. Der Schwerpunkt Neue Rundschau liegt in der Vergangenheit, die ungehaltenen Reden haben ihr eigenes Buch bekommen. Erste Erkenntnis: Der Weg ist das Ziel. Zweite Erkenntnis: Immer weitergehen. Dritte Erkenntnis: Immer weiterreden. Lesen Sie, was all diese Frauen zu sagen haben. Und überlegen Sie gleichzeitig, was Sie selbst zu sagen hätten. Weil es einfach nicht genug Frauen geben kann, die immer wieder aufs Neue mutig und selbstbewusst das Wort ergreifen.

Friederike Emmerling

© Elvira Zickendraht

Christine Brückner

Christine Brückner wurde 1921 als Pfarrerstochter geboren. Sie studierte Germanistik, Psychologie und Kunstgeschichte, während sie ihren Lebensunterhalt als Köchin, Kantinenleiterin, Buchhalterin und wissenschaftliche Mitarbeiterin am Kunstinstitut Marburg verdiente. Im Alter von zweiunddreißig Jahren veröffentlichte Christine Brückner ihren ersten Roman: Ehe die Spuren verwehen.

Im Jahr 1983 brachte Christine Brückner bei Hoffmann & Campe das Buch Wenn du geredet hättest, Desdemona. Ungehaltene Reden ungehaltener Frauen heraus. Es handelt sich dabei um zunächst 11, in der Ullstein-Taschenbuch-Ausgabe dann 14 Monologe, die die Autorin Frauen aus Geschichte und Literatur in den Mund gelegt hat: von Klytämnestra und Sappho über Katharina von Bora, Desdemona und Effi Briest bis zu Eva Braun, Gudrun Ensslin und einer Ungeborenen.

„Christine Brückner setzt das jahrhundertelang übliche Bezugsverhältnis zwischen Männern und Frauen voraus, um es danach in seiner Absurdität sichtbar zu machen. Und wie das geschieht – mit wieviel Schalksinn, Einfallsreichtum und amüsantem Umkehren aller Verhältnisse!“, so Walter Jens in seiner Rezension des Buches.

Gedacht waren die Texte auch als Theatermonologe. Sie wurden nicht nur als Lektüre, sondern auch auf der Bühne ein großer Publikumserfolg. Das Buch verkaufte sich im oberen sechsstelligen Bereich, und in den 1980er Jahren war Christine Brückner mit diesen Texten an Theatern auch eine der meistgespielten deutschsprachigen Autorinnen. Bis heute wird das Buch häufig erworben und werden die Monologe vielfach gespielt.

Zu ihren Lebzeiten (1921-1996) gehörte die Schriftstellerin Christine Brückner zu den meist gelesenen Autorinnen Deutschlands. Ihr umfangreiches Werk umfasst Romane, Erzählungen, Aufzeichnungen, Hörspiele und Theaterstücke. 1984 stiftete sie mit ihrem Mann, dem Schriftsteller Otto Heinrich Kühner den „Kasseler Literaturpreis für grotesken Humor“ und gründete die Stiftung Brückner-Kühner. Sie wurde vielfach ausgezeichnet und ist Ehrenbürgerin der Stadt Kassel.

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