Theater

Fokus

Christine Brückner & die ungehaltenen Reden

Frauen, ergreift das Wort!

Mit ihren Erfolgsmonologen Wenn du geredet hättest, Desdemona. Ungehaltene Reden ungehaltener Frauen hat Christine Brückner Frauen aus Literatur und Geschichte zu Wort kommen lassen, die bis dahin kaum oder gar nicht zu hören waren. Was läge also näher, als zu ihrem 100. Geburtstag, neuen ungehaltenen Frauen ein Podium für neue ungehaltene Reden anzubieten? Jury-Mitglied Friederike Emmerling schwärmt von Christine Brückner und diesem Projekt. Bis zum 31. Juli 2021 können Reden unter www.ungehalten.net eingereicht werden.

Logo der Stiftung Brückner-Kühner für das Projekt Ungehaltene Reden ungehaltener Frauen © Stiftung Brückner-Kühner

Christine Brückner gründete 1984 mit ihrem Mann und Schriftstellerkollegen Otto Heinrich Kühner die Stiftung Brückner-Kühner, die seither den Kasseler Literaturpreis für grotesken Humor vergibt. Mit diesem Preis hat sie noch weit über ihren Tod und den Ruhm ihrer Bücher hinaus die literarische Vielfalt Deutschlands belebt. Sie schuf eine Aufmerksamkeit für die Komischen unter den Schreibenden, deren literarische Qualitäten gerne unterschätzt wurden. Christine Brückner selbst wurde schon zu Lebzeiten nicht unterschätzt, sie war eine sehr selbstbewusste Erfolgsautorin und wusste genau, was sie wollte. Diese Energie hat sich in ihre Werke hineingeschrieben, und mit einem von ihnen wurde sie dann sogar eine sehr erfolgreiche Theaterautorin: Wenn du geredet hättest, Desdemona. Ungehaltene Reden ungehaltener Frauen (1983). Sie schrieb hierfür 14 fiktive Reden von Frauenfiguren aus Literatur und Geschichte und gab dadurch denen Aufmerksamkeit, die bislang eher eine Nebenrolle einnahmen. Die Gruppe der Ungehaltenen reicht von Klytämnestra über Maria, Katharina Luther und Effi Briest bis zu Gudrun Ensslin und vielen anderen. Mittendrin redet Christine Brückner selbst, die ihr ungehaltenes Wort an die Kollegin Meysenburg richtet. Schon in dem Spiel mit dem Wort ‚ungehalten‘ manifestierte sich Christine Brückners Freude an Sprachwitz und dem eindeutig Uneindeutigen. Denn ungehalten ungehalten blieben auch ihre Reden nicht lange, sie wurden am Theater bis heute immer und immer wieder gespielt und von zahlreichen wunderbaren Schauspielerinnen gesprochen. Einzig eine Sehnsucht blieb unerlöst: der leibhaftigen Katharina Luther oder der echten Desdemona dabei zuhören zu dürfen, wie sie die Welt sahen. Diese Sehnsucht wird bleiben müssen. Gleichzeitig diente sie als Idee für ein Projekt der Stiftung Brückner-Kühner zum 100. Geburtstag der Autorin:

Alle Frauen sind eingeladen, sich mit einer ungehaltenen Rede zu bewerben, um als eine von sechs Rednerinnen am 10. Dezember 2021 im Rahmen von Christine Brückners 100. Geburtstag und am Tag der Menschenrechte das Wort ergreifen zu können. Die Reden werden im Kasseler Rathaus vor Publikum gehalten und vom Hessischen Rundfunk aufgezeichnet und gesendet. Carla Reemtsma wird den Reigen der ungehaltenen Reden mit einer Keynote eröffnen. Die Ausschreibung zu diesem Projekt ist so ungewöhnlich, wie die Autorin selbst es war. Denn wie ließe sich erahnen, ob Katharina Luther eine gute Rednerin gewesen wäre? Allein ihre eingereichte Rede in Schriftform hätte davon kein Zeugnis geben können. Folglich müssen alle neuen ungehaltenen Reden als Film eingereicht werden. Das mag ein erstaunliches Ansinnen für eine Ausschreibung sein, zollt aber bei genauerer Betrachtung der Energie und Pragmatik von Christine Brückner Tribut: Wer eine ungehaltene Rede schreibt, muss sie auch halten dürfen. Und wollen. Denn ist nicht auch eine große Lust damit verbunden, etwas zu schreiben, was durch die eigene Stimme und den eigenen Körper zum Leben erweckt werden soll?

Die Stiftung Brückner-Kühner gemeinsam mit S. Fischer Theater & Medien und in Kooperation mit dem Archiv der deutschen Frauenbewegung und hr2-kultur rufen alle Frauen - und damit sind wirklich alle Frauen gemeint - voller Neugier und Freude dazu auf, sich mit einer Rede zu bewerben. Einsendeschluss ist der 31. Juli 2021. Vielleicht wird die Rede ja Ende des Jahres in Kassel zu hören sein. Oder einen anderen Weg in die Öffentlichkeit finden. Nur eines zählt und das war schon damals ganz im Sinne von Christine Brückner: Frauen, ergreift das Wort! Weitere Informationen zu der Ausschreibung finden sich unter www.ungehalten.net

© Elvira Zickendraht

Christine Brückner

Christine Brückner wurde 1921 als Pfarrerstochter geboren. Sie studierte Germanistik, Psychologie und Kunstgeschichte, während sie ihren Lebensunterhalt als Köchin, Kantinenleiterin, Buchhalterin und wissenschaftliche Mitarbeiterin am Kunstinstitut Marburg verdiente. Im Alter von zweiunddreißig Jahren veröffentlichte Christine Brückner ihren ersten Roman: Ehe die Spuren verwehen.

Im Jahr 1983 brachte Christine Brückner bei Hoffmann & Campe das Buch Wenn du geredet hättest, Desdemona. Ungehaltene Reden ungehaltener Frauen heraus. Es handelt sich dabei um zunächst 11, in der Ullstein-Taschenbuch-Ausgabe dann 14 Monologe, die die Autorin Frauen aus Geschichte und Literatur in den Mund gelegt hat: von Klytämnestra und Sappho über Katharina von Bora, Desdemona und Effi Briest bis zu Eva Braun, Gudrun Ensslin und einer Ungeborenen.

„Christine Brückner setzt das jahrhundertelang übliche Bezugsverhältnis zwischen Männern und Frauen voraus, um es danach in seiner Absurdität sichtbar zu machen. Und wie das geschieht – mit wieviel Schalksinn, Einfallsreichtum und amüsantem Umkehren aller Verhältnisse!“, so Walter Jens in seiner Rezension des Buches.

Gedacht waren die Texte auch als Theatermonologe. Sie wurden nicht nur als Lektüre, sondern auch auf der Bühne ein großer Publikumserfolg. Das Buch verkaufte sich im oberen sechsstelligen Bereich, und in den 1980er Jahren war Christine Brückner mit diesen Texten an Theatern auch eine der meistgespielten deutschsprachigen Autorinnen. Bis heute wird das Buch häufig erworben und werden die Monologe vielfach gespielt.

Zu ihren Lebzeiten (1921-1996) gehörte die Schriftstellerin Christine Brückner zu den meist gelesenen Autorinnen Deutschlands. Ihr umfangreiches Werk umfasst Romane, Erzählungen, Aufzeichnungen, Hörspiele und Theaterstücke. 1984 stiftete sie mit ihrem Mann, dem Schriftsteller Otto Heinrich Kühner den „Kasseler Literaturpreis für grotesken Humor“ und gründete die Stiftung Brückner-Kühner. Sie wurde vielfach ausgezeichnet und ist Ehrenbürgerin der Stadt Kassel.

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