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Lothar Kittstein

DRAMA @ HOME Mikrodramen: ZUM REWE

Im Frühsommer 2020, dem ersten Jahr der Coronakrise, wurde pro Tag ein Mikrodrama von uns veröffentlicht. Alle konnten mitmachen. Wir haben uns sehr gefreut über alle, die an diesem Experiment teilgenommen haben. #dasdramaverbindet #dasdramalebt #dankanalle

Porträt von Lothar Kittstein © Sandra Then

Papa? Ich bin's. Ich wollte nur mal hören, wie's dir geht’s. Wieso, jetzt keine Zeit? Nein! Mach das nicht! Du solltest jetzt nicht rausgehen – gar nicht! Ja, genau. Du solltest gar nicht raus. Am besten solltest du jetzt gar nicht rausgehen. Was? Zum REWE, nein! Du gehst jetzt nicht zum REWE! Du tust du bitte nicht. Das sind genau die Orte, die du meiden solltest. In dem Haus bei dir werden doch Leute sein, die was besorgen können. Frag die Nachbarn. Was ist denn mit der Familie ganz unten? Ja, natürlich sind sie laut. Ich weiß. Die haben kleine Kinder, aber das heißt nicht, dass – was? Natürlich sind die Kinder immer da, die haben keine Schule. Nein, beschwer dich bitte nicht. Beschwer dich bitte jetzt nicht über Kinderlärm. Sie streiten sich ständig? Ja, das ist doch wohl normal, dass Kinder – Was? Was ich von Kindern weiß? Was soll denn das? Was soll denn das schon wieder? Es ist meine Sache, dass ich keine Kinder habe, es ist meine Sache, und du weißt, dass ich nicht die geringste Lust hab, mit dir darüber zu reden, ich lege jetzt auf. Ich lege jetzt gleich auf. Das Jugendamt. Du hast das Jugendamt? Sie hat die Kinder nicht im Griff? Du kannst doch nicht in dieser Krise – Hast du gesagt, dass du im Haus wohnst? Ob du gesagt hast, wie du heißt, das meine ich! Ja, du bist nicht blöd. Ich habe nicht gesagt, du wärest blöd, ich habe nur gesagt, nenn deinen Namen nicht, wenn du dich schon als Blockwart aufspielst. Du bist unmöglich. Nein. Du hast uns damals nicht im Griff gehabt. Du hast uns überhaupt niemals im Griff gehabt, du warst nämlich nicht da! Du warst nie da! Du warst doch ständig auf der Arbeit, und wenn du daheim warst, warst du nicht zu sprechen und sahst fern! Ja, jetzt. Jetzt bist du zu sprechen, aber findest du nicht, dass es etwas spät ist? Ein paar Jahre, ein paar Jahrzehnte zu spät, und alles, was du damals konntest, war zu schweigen, scheiße! Ich schreie nicht! Ich schreie, wann ich will! Ich weine überhaupt nicht! Ich weine, wann ich will! Ich bin kein Baby mehr, ich wein, so viel ich will! Du gehst jetzt nicht da raus! Du hörst jetzt zu! Du gehst jetzt nicht zum REWE! Ich komme! Ich setz mich jetzt ins Auto. In meinem Zustand? Ich hasse dich! Du kotzt mich an! Du bist ein solches Arschloch, geh nicht raus! Ich komme jetzt. Ich kauf dir was. Ich komm nicht rein. Ich kauf dir was. Ich komme nicht. Ich komm nicht rein. Nein. Ich stell dir was vor die Tür. Ich kauf dir was. Du gehst nicht raus. Ich komme jetzt. Ich fahre los. Ich bin in drei – zwei Stunden da. Die Straßen sind ja frei. Ich kauf dir was. Ich komm nicht rein. Ich stell dir nur was hin. Du gehst nicht raus. Versprochen? Gut. Ich leg jetzt auf. Ich passe auf. Ich putz mir meine Nase, das war nur das Naseputzen. Ja. Ich passe auf, Papa. Ich komme jetzt. Ich stelle dir was hin. Mach mir nicht auf. Mach nicht die Tür auf. Du bleibst drin. Versprochen? Gut. Ich komme. Ja. Ich fahre jetzt zu dir.

© Rechte liegen bei dem Autor

Pro Tag wird ein Mikrodrama veröffentlicht. Auf unserer Website befinden sich die vollständigen Stücke zur Ansicht. Einen kleinen Vorgeschmack bieten die "Teaser" auf Instagram und Twitter. Gerne senden wir aber auch pdf-Dateien zu; einfach [email protected] anschreiben. Wir freuen uns über alle Filme, Bilder, Dokumentationen dieses dramatischen Experiments, die mit uns geteilt werden. #dasdramaverbindet #dasdramalebt #dankanalle

Lothar Kittstein

Lothar Kittstein, geboren 1970 in Trier, studierte Germanistik, Philosophie und Geschichte in Hannover und Bonn. Nach seiner Promotion arbeitete er als Headhunter bei einer kleinen Unternehmensberatung. Mit dem dramatischen Schreiben begann er 2003. Im Juni 2005 wurde sein Stück In einer mondhellen Winternacht zu den Autorentheatertagen des Thalia Theaters eingeladen, im September 2005 fand die Uraufführung von Spargelzeit am Theater Osnabrück statt. Lothar Kittstein nahm im Oktober 2006 an den Autoren-Werkstatttagen am Burgtheater in Wien teil. Für die Kurzgeschichte Norwegen bekam er den Würth-Literaturpreis 2006 verliehen. Gemeinsam mit dem Regisseur Bernhard Mikeska erarbeitet er seit 2009 Installationen, die mit den Wahrnehmungen der Theaterzuschauer spielen und sie direkt mit Schein und Sein konfrontieren. Ihre Arbeiten spielen mit der Logik eines konsistenten Raum-Zeit-Kontinuums und der inneren Welt der Wahrnehmung. Inszenierung und Realität verdichten sich zu einer neuen Erfahrung. Dabei spielen Geschichten, Personen und Orte aus dem kollektiven Gedächtnis einer Stadt eine besondere Rolle. Für Volker Lösch schrieb Lothar Kittstein die Ibsen-Überschreibung Volksfeind for Future. Lothar Kittstein lebt in Bonn.



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