Theater
Fokus

Christine Brückner & die ungehaltenen Frauen

Sind wir nicht alle Millfeuilles?

Am Tag der Menschenrechte haben im Kasseler Rathaus erneut sechs ungehaltene Frauen beherzt das Wort ergriffen. Obwohl die Themen schwer waren, konnten die Rednerinnen mit furchtloser Leichtigkeit davon erzählen. Und weil sie nicht nur von sich gesprochen haben, sondern auch für viele andere, hielt das Publikum so still, dass eine Stecknadel im Fall zu hören gewesen wäre. Friederike Emmerling über die vielschichtige Verlockung der Schnittmenge.

Laudatorin Friederike Emmerling am Rednerpult

Kennen Sie das französische Gebäck Millefeuille? Übersetzt heißt es Tausendblatt und besteht aus vielen Lagen, die hauchdünn aus Blätterteig geschichtet und je nach Gusto mit Pudding, Marmelade oder Sahne verdichtet, schließlich mit Zuckerguss bezogen werden. Es schmeckt nicht nur köstlich, sondern bekommt im Zusammenhang mit „Ich bin VIELE!“ eine völlig neue Bedeutung. Millefeuille könnte auch eine Beschreibung für die Beschaffenheit des Menschen sein. Wie das Gebäck besteht auch er aus vielen tausend Schichten, die sich aus Erfahrungen und Prägungen speisen. Wie leicht müsste es da doch sein, zarte Gemeinsamkeiten zu entdecken? Und wieviel schöner noch, als schnelle Vorurteile zu bestätigen? Nichts sollte uns davon abhalten, dem verlockenden Millefeuille im Kopf als süßem Vorbild zu folgen und bei jeder neuen Begegnung zu fragen: Wo sind eigentlich die Schnittmengen unserer Schichten? „Ich bin VIELE!“ wäre nicht mehr nur Fakt, sondern auch fröhliche Drohung, der emotionalen Verrohung einfach und offenherzig unsere Vielschichtigkeit entgegenzusetzen.

Für das Cover unseres Buchs hat die Künstlerin Antonia Milzner den Titel zum Symbol gemacht. „Ich bin VIELE!“ könnte eine Flamme sein, eine Vulva, ein Hinterkopf, ein Muskelstrang oder einfach nur ein wunderbar wucherndes Geflecht. Die Vielschichtigkeit jeder Einzelnen, aber auch die empowernde Wirkung jeder einzelnen Rede wurden hier beeindruckend verschmolzen. Eins ist gewiss: „Ich bin VIELE!“ meint uns alle. 

(aus dem Vorwort von “Ich bin VIELE! Neue ungehaltene Reden ungehaltener Frauen”)

© Elvira Zickendraht

Christine Brückner

Christine Brückner wurde 1921 als Pfarrerstochter geboren. Sie studierte Germanistik, Psychologie und Kunstgeschichte, während sie ihren Lebensunterhalt als Köchin, Kantinenleiterin, Buchhalterin und wissenschaftliche Mitarbeiterin am Kunstinstitut Marburg verdiente. Im Alter von zweiunddreißig Jahren veröffentlichte Christine Brückner ihren ersten Roman: Ehe die Spuren verwehen.

Im Jahr 1983 brachte Christine Brückner bei Hoffmann & Campe das Buch Wenn du geredet hättest, Desdemona. Ungehaltene Reden ungehaltener Frauen heraus. Es handelt sich dabei um zunächst 11, in der Ullstein-Taschenbuch-Ausgabe dann 14 Monologe, die die Autorin Frauen aus Geschichte und Literatur in den Mund gelegt hat: von Klytämnestra und Sappho über Katharina von Bora, Desdemona und Effi Briest bis zu Eva Braun, Gudrun Ensslin und einer Ungeborenen.

„Christine Brückner setzt das jahrhundertelang übliche Bezugsverhältnis zwischen Männern und Frauen voraus, um es danach in seiner Absurdität sichtbar zu machen. Und wie das geschieht – mit wieviel Schalksinn, Einfallsreichtum und amüsantem Umkehren aller Verhältnisse!“, so Walter Jens in seiner Rezension des Buches.

Gedacht waren die Texte auch als Theatermonologe. Sie wurden nicht nur als Lektüre, sondern auch auf der Bühne ein großer Publikumserfolg. Das Buch verkaufte sich im oberen sechsstelligen Bereich, und in den 1980er Jahren war Christine Brückner mit diesen Texten an Theatern auch eine der meistgespielten deutschsprachigen Autorinnen. Bis heute wird das Buch häufig erworben und werden die Monologe vielfach gespielt.

Zu ihren Lebzeiten (1921-1996) gehörte die Schriftstellerin Christine Brückner zu den meist gelesenen Autorinnen Deutschlands. Ihr umfangreiches Werk umfasst Romane, Erzählungen, Aufzeichnungen, Hörspiele und Theaterstücke. 1984 stiftete sie mit ihrem Mann, dem Schriftsteller Otto Heinrich Kühner den „Kasseler Literaturpreis für grotesken Humor“ und gründete die Stiftung Brückner-Kühner. Sie wurde vielfach ausgezeichnet und ist Ehrenbürgerin der Stadt Kassel.

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