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Christine Brückner

Die ungehaltenen Frauen und das Publikum

Sechs ungehaltene Frauen haben am 10. Dezember 2023 das Wort ergriffen und ihre Reden vor Publikum gehalten. Dass Reden aber immer auch vom Publikum gehalten werden müssen, und ganz besonders die ungehaltenen, davon spricht Friederike Emmerling in ihrer Begrüßung zu den Ungehaltenen Reden ungehaltener Frauen.

Ungehaltene Rednerinnen Kassel 2023

Die ungehaltenen Frauen und das Publikum


Liebe ungehaltene Rednerinnen, liebe Musikerinnen, liebe Jury,
liebe Stadt Kassel und last but not least liebes, herzlich willkommenes Publikum.
Wir freuen uns sehr, dass heute Abend so viele Menschen aus und nach Kassel gekommen sind oder alternativ diese Veranstaltung an den Bildschirmen verfolgen.
Das Publikum ist heute Abend nämlich genauso wichtig wie die wunderbaren Rednerinnen, das ist Ihnen hoffentlich klar!
Jede Rede muss vor Publikum gehalten werden, aber jede Rede muss auch vom Publikum gehalten werden, ganz besonders die ungehaltenen.
Ende Juli ging die zweite Ausschreibung zu Ende,
fast hundert Reden wurden als Videos eingereicht.
Wir als Jury tauchten ein in diesen Kosmos des Ungehaltenen,
und schon wie im letzten Jahr fühlte es sich an wie ein Rausch,
die Inhalte oft aufwühlend, aber trotzdem nie allein,
die redenden Frauen gaben und geben sich gegenseitig Halt,
ohne voneinander zu wissen.
Jede einzelne Rede ist besonders,
und alle zusammen lassen ein tiefes Beben erahnen.
Ungehaltensein entsteht durch eine Verwischung von Konturen,
eine Auflösung von Gewissheiten.
Das Ungehaltene entsteht aus der Unklarheit.
In einer Welt, die auseinanderfällt,
die so viele Krisen nebeneinander zu bewältigen hat,
ist es schwer, sich richtig zu verhalten.
Nichts ist einfach, sondern alles vielschichtig und komplizierter,
als es auf den ersten Blick erscheint.
Genau da setzt das Ungehalten-Projekt an:
Es geht darum, zu verstehen, zu lernen, nachzuvollziehen,
was ungehalten macht und warum.
Und manchmal auch auszuhalten, dass zwei völlig verschiedene Meinungen nebeneinanderstehen.
Eine Frau fordert Frieden ohne Waffen und eine andere Waffen für den Frieden.
Eine Mutter schließt die Augen, während eine andere immer weiterrennt.
Eine kämpft mit dem eigenen Körper, eine andere mit Gewalt in der Familie.
Eine zerbricht an den Erwartungen, eine andere wütet wie eine Furie.
Heute Abend hören Sie sechs Reden, die uns sehr beeindruckt haben.
Das heißt aber nicht, dass die anderen Reden nicht auch beeindruckend gewesen wären. Wir haben versucht, einen Querschnitt zu finden:
Sechs Reden, sechs Themen, sechs Formen.
Gleichzeitig gibt es aber noch viele, viele mehr.
Wie gerne würden wir sie alle die ganze Nacht hindurch reden hören.
Vierundzwanzig ungehaltene Reden werden im Februar als Buch bei S. FISCHER erscheinen.
Es trägt als Titel ein Zitat von Christine Brückner: “Sag jetzt nichts, lass mich zu Ende reden.”
Dieses Projekt macht glücklich, weil all diese ungehaltenen Reden vom Aufbruch erzählen und vom Aufbrechen starrer Krusten, vom Springen und vom Sichtrauen.
Es sind ja nur Worte, könnte manch ein Mensch denken,
aber das Gegenteil ist der Fall:
Es sind Worte!
Und Worte schaffen Bewusstsein.
In der ganzen Welt geschehen furchtbare Dinge,
der Krieg in der Ukraine, die Proteste im Iran, Afghanistan, die Klimakrise.
Daneben das Alltägliche,
der weibliche Zyklus, die Überforderung, Care-Arbeit.
Gemeinsam ergibt sich daraus ein Bild unserer Zeit:
Das Große und das Kleine,
das Erschütternde und das Komische,
das Harte und das Weiche,
die Klage und das Pamphlet.
Das Spektrum an Themen und Formen scheint grenzenlos -
und zeigt sich schon jetzt in einer faszinierenden Vielfältigkeit,
obwohl die ungehaltenen Reden bisher nur ein kleiner Ausschnitt sind.
Und hoffentlich noch viel mehr ungehaltene Frauen aus allen Bereichen der Gesellschaft davon erzählen werden,
was sie sich nicht länger gefallen lassen wollen.
Wir wollen unbedingt weitermachen.
Aber das wird nur möglich sein, wenn wir uns gegenseitig unterstützen:
Deshalb an alle Frauen: Reicht ungehaltene Reden ein!
Und an alle anderen: Hört ihnen gut dabei zu!
Und an alle, die trotz dieser schwierigen Zeiten
oder vielleicht gerade deshalb den ein oder anderen Euro entbehren können,
spendet gerne und großzügig für dieses Projekt.
Dann sorgen wir dafür, dass wir am 10. Dezember 2023 hier wieder zusammenkommen können, um zu hören, was gesagt werden muss.
Damit bin ich am Ende, und mir bleibt nur noch eines zu sagen,
und das ist das Schönste:


Liebe ungehaltene Frauen
-
Zoe Cross,
Sara Ehsan,
Sandra Kossendey,
Chrizzi Heinen,
Bettina Pili,
und Eva Schulz-Jander
-
ergreift das Wort!

© Elvira Zickendraht

Christine Brückner

Christine Brückner wurde 1921 als Pfarrerstochter geboren. Sie studierte Germanistik, Psychologie und Kunstgeschichte, während sie ihren Lebensunterhalt als Köchin, Kantinenleiterin, Buchhalterin und wissenschaftliche Mitarbeiterin am Kunstinstitut Marburg verdiente. Im Alter von zweiunddreißig Jahren veröffentlichte Christine Brückner ihren ersten Roman: Ehe die Spuren verwehen.

Im Jahr 1983 brachte Christine Brückner bei Hoffmann & Campe das Buch Wenn du geredet hättest, Desdemona. Ungehaltene Reden ungehaltener Frauen heraus. Es handelt sich dabei um zunächst 11, in der Ullstein-Taschenbuch-Ausgabe dann 14 Monologe, die die Autorin Frauen aus Geschichte und Literatur in den Mund gelegt hat: von Klytämnestra und Sappho über Katharina von Bora, Desdemona und Effi Briest bis zu Eva Braun, Gudrun Ensslin und einer Ungeborenen.

„Christine Brückner setzt das jahrhundertelang übliche Bezugsverhältnis zwischen Männern und Frauen voraus, um es danach in seiner Absurdität sichtbar zu machen. Und wie das geschieht – mit wieviel Schalksinn, Einfallsreichtum und amüsantem Umkehren aller Verhältnisse!“, so Walter Jens in seiner Rezension des Buches.

Gedacht waren die Texte auch als Theatermonologe. Sie wurden nicht nur als Lektüre, sondern auch auf der Bühne ein großer Publikumserfolg. Das Buch verkaufte sich im oberen sechsstelligen Bereich, und in den 1980er Jahren war Christine Brückner mit diesen Texten an Theatern auch eine der meistgespielten deutschsprachigen Autorinnen. Bis heute wird das Buch häufig erworben und werden die Monologe vielfach gespielt.

Zu ihren Lebzeiten (1921-1996) gehörte die Schriftstellerin Christine Brückner zu den meist gelesenen Autorinnen Deutschlands. Ihr umfangreiches Werk umfasst Romane, Erzählungen, Aufzeichnungen, Hörspiele und Theaterstücke. 1984 stiftete sie mit ihrem Mann, dem Schriftsteller Otto Heinrich Kühner den „Kasseler Literaturpreis für grotesken Humor“ und gründete die Stiftung Brückner-Kühner. Sie wurde vielfach ausgezeichnet und ist Ehrenbürgerin der Stadt Kassel.

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