Theater

Igor Bauersima

Boulevard Sevastopol

Anna sieht man auf einer erotischen Website. Anna sieht man auch in einer Wiener Vorstadtwohnung, zusammen mit Larissa, Sveta, Georgij, Vienna und deren Mutter. Anna sieht man nicht in Paris, wo sie immer hinwollte, nicht in Moskau, wo sie herkam. Vielmehr sieht man die Medizinstudentin gefangen im Schleppernetz mit einem beachtlichen Schuldenberg. Also sucht sie die Freiheit an einem Ort, der sie das Schmuddeldasein vergessen lässt: das Internet.
Dort trifft sie auf Zed und verliebt sich in den Weiten des Netzes in die Fiktionen, die beiden eine gemeinsame Geschichte geben. Doch so fern, wie sie annimmt, ist ihre Cyberliebe nicht, und so
fremd, wie sie glaubt, ist auch sie nicht dem Sohn des Schleppers, Zuhälters und Hausbesitzers. Es ist der Tag, an dem Realität und Fiktion verschmelzen werden, an dem Zed entscheiden muss, wie er die Stränge zusammenführt, um das zwischen ihnen Gewachsene nicht zu verlieren. Es ist Silvesterabend, und zu dem Fest der Emigranten sind alle eingeladen.
Igor Bauersima und Réjane Desvignes werfen einen ungewohnten Blick auf das Schicksal dieser Menschen.

5 D, 4 H, 1 Hund

UA: 31.03.2006 · Burgtheater, Wien · Regie: Igor Bauersima

Aufführungsarchiv

31
März 2006
Igor Bauersima

Boulevard Sevastopol

Theater
UA
Theater Burgtheater GmbH, Wien

Weitere Stücke

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Theater
Igor Bauersima, Réjane Desvignes

Lucie de Beaune

4 D, 5 H, St, Verwandlungsdek

Seit frühester Kindheit hatte ich Freude daran, meinen Spielkameraden den Kopf zu verdrehen und ihnen die Gewissheit zu rauben, die sie mit der Wirklichkeit verband. Es reichte, für einen Moment die Kerze auszublasen und ein, zwei Sätze zu sagen, die sich mit der Dunkelheit zu einem neuen Bild verbanden, und schon hatte ich jeden in der Hand.
Die Geschichten, die ich erzählte, waren mir im Grunde egal: Meine Freude war es, dass mir die anderen ausgeliefert waren, sobald sie das Reich meiner Fantasie betreten hatten. Auch später, als ich die Klosterschule besuchte, war ich meinen Freunden immer einen Schritt voraus. Noch vor meiner Weihe zum Priester habe ich es geschafft, dem Kirchenobersten weiszumachen, dass er schon bald vor mir knien würde. Den Moment, als es so weit war, hab ich sehr genossen. Heute bin ich Bossuet, der Bischof von Condom. Als schliesslich auch der König vor mir auf die Knie fiel, als auch er sich selbst und seine Vernunft an mich verraten hatte, da wusste ich: Die niederträchtigsten, gewalttätigsten Menschen sind auf meiner Seite. Ja, ich habe das ganze Land in meinen Händen. Und ich bin doch nur eine Nebenfigur. Manchmal aber schreckt mich ein Albtraum aus dem Schlaf. Ich wache auf und bin allein, vollkommen allein. Auf mich selbst gestellt, in einer Welt, die mir nichts glaubt, ohne dass ich es bewiese. Eine Welt, die einfach nur ist, was sie ist. Vater, habe ich gesündigt? Oder hab ich Ihren Willen erfüllt? Vater?
(Ankündigung des Schauspielhauses Zürich)

UA Frei
Theater
Igor Bauersima

Lebenswut

4 D, 4 H, (oder mehr)

Leif liebt Helena. Nun soll sie gestorben sein. Leif kann es nicht glauben. Seine Eltern und seine Freunde versuchen, ihn von ihrem Tod zu überzeugen. Schließlich hat Helena einen Abschiedsbrief hinterlassen. Leif will es nicht glauben. Er macht sich auf die Suche nach der Geliebten. Verschwindet. Seine Freunde finden ihn schließlich an einem völlig verlassenen Ort. Leif wirkt verwirrt. Er spricht mit einer unsichtbaren Person. Er macht ihnen Angst. Sie überwältigen ihn und bringen ihn in eine Anstalt. Aber Leif ist auch dort nicht zu beruhigen. Er hört Helenas Stimme, er sieht sie sogar. Sie kommt ihn besuchen. Zusammen mit ihr bricht er aus seinem Gefängnis aus ...

Man ist geübt darin zu glauben, dass unsichtbare Personen nur den Wahnvorstellungen psychisch kranker Menschen entspringen können. Doch in Lebenswut reicht diese Erklärung nicht aus. Wenn die Handlung zunehmend die Grenzen der Plausibilität zu sprengen droht und Dinge geschehen, die die menschliche Vorstellungskraft übersteigen, so geschieht dies absichtlich. Vielleicht ist Helena doch real und lebend, und die lebenden Toten sind diejenigen, die ihre Existenz verneinen? Am Ende erweist sich Helena, ob tot oder lebendig, als die Verkörperung eines frohen, erfüllten und stolzen Lebens ohne Kompromisse. Sie ist, was uns die Lebenswut am Beginn unserer Existenz alle werden lassen will: FREI.

Die Oper The Rage of Life wurde am 12. November 2010 an der Staatsoper Stuttgart in Koproduktion mit De Vlaamse Opera Antwerpen und Gent uraufgeführt. Igor Bauersima hat aus dem Libretto ein Theaterstück entwickelt.

Theater
Igor Bauersima

Context

1 D, 2 H, Verwandlungsdek

Drei alte Freunde. Der Schriftsteller Nils, der PR-Profi Casper und die preisgekrönte Journalistin Olga. In einer Sommernacht geraten die drei Meister des Wortes aneinander. Zu Studienzeiten waren sie unzertrennlich. Schriftlich haben sie festgelegt, sich in 10 Jahren wieder zu treffen. Schnell wird klar, daß jeder schon beim Unterschreiben eine eigene Interpretation ihrer gegenseitigen Versprechungen im Kopf hatte. Die drei versuchen der drohenden Aussprache zu entkommen. Nils emotionaler Zustand schwappt schnell auf seine Freunde über. Er manövriert die Situation ins Ausweglose. Die drei verwickeln sich in ein Ringen auf höchstem rhetorischen Niveau. Sie sind gezwungen, sich der Wahrheit zu stellen, und keiner entpuppt sich als das, was er zu sein meint. Bei Morgengrauen nimmt der Konflikt eine entscheidende Wendung ...

"Es ist möglich, sich auf Kosten geschundener Menschen eine moralische Legitimation zu erkriechen, um mit den Propagandamethoden der alten Schlächter die fette Kohle und einen Rest von Filmglamour reinzuziehen, ohne dass man sich dafür vor einem Gericht verantworten müsste. Und es ist möglich, die Gesetze des Marktes auch für diese Fälle heilig zu sprechen. Es ist möglich, dass wir laut applaudieren, nachdem wir einen langen Abend lang betrogen wurden. Aber dass wir den kleinsten gemeinsamen Hamburger noch Jahrtausende lang hinunterwürgen, ist unwahrscheinlich. Der Motor der Geschichte ist vielleicht, dass uns einer mal so richtig hat stehen lassen. Ganz am Anfang ... Wir verkünden Ideen, obwohl sie gelogen sind, oder wir behaupten, dass unsere Ideen nur im Kontrast zur irregeführten Welt falsch erscheinen, oder wir machen einfach mal wieder was platt. Oder wir beschließen, uns auf die Welt zu verlassen, was selbstverständlich eine vernünftige, wenn auch schwierige Position ist. Oder wir machen irgend ein anderes Theater." (Igor Bauersima)

Theater
Igor Bauersima, Réjane Desvignes

Bérénice de Molière

2 D, 3 H

Eine literarhistorische Kuriosität: zwei französische Dramatiker, Corneille und Racine, schreiben zur Zeit Ludwig XIV. parallel an demselben Stoff: Bérénice. Selbst die Uraufführung beider Stücke findet im Abstand von wenigen Tagen statt. Das Thema ist bei beiden das gleiche: wie sind Vernunft und Leidenschaft in Einklang zu bringen?
Der über sechzigjährige Corneille ist mit seinem Stück nicht erfolgreich, glaubt er doch - noch ganz Rationalist - an die Fähigkeit des Menschen, seine Leidenschaften zugunsten höherer ethischer Vernunft-Prinzipien im Zaum halten zu können. Racine aber ist das Sprachrohr der Generation der Dreißigjährigen: wesentlich skeptischer (und realistischer) schildert er, wie der Mensch zum Spielball seiner Leidenschaften werden kann, und ringt - hierin dann doch klassisch - darum, dass er diesen Kampf nicht verliert, fragt aber auch nach den Kosten des Verzichts.
Wie konnte es dazu kommen, dass beide gleichzeitig das gleiche Stück schrieben? Es gibt Mutmaßungen, dass beide - ohne voneinander zu wissen - von der Herzogin von Orléans beauftragt wurden. Was aber wäre, wenn die Herzogin den knapp fünfzigjährigen Komödianten Molière, ebenfalls ein Zeitgenosse, zeitgleich auch noch mit Aufträgen versehen hätte?
Eine Geschichte um eine Frau und um drei Männer, drei Autoren: einen intelligenten Aufklärer, einen romantischen Tragiker und einen skeptischen Komödianten...
Eine Bérénice de Molière, die allerdings nie geschrieben wurde. (Ankündigung des Burgtheater Wien)

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