Theater

Stefan Schütz

Der Hahn

In Stefan Schütz Stück dringt der titelgebende Hahn in die kleinbürgerliche Enge der DDR-Gesellschaft ein, zwar selbst schon arg gerupft und flügellahm, aber durchaus noch in der Lage, Aufregung, Verstörung und Befreiung zu bewirken.
Bei Alma und Andreas Korgul setzt er sich in deren Toilette wohnlich fest. Bei beiden tritt unter Einfluss des gefiederten Hausgenossen eine Bewußtseinänderung ein, bei Alma entscheidend, bei ihrem etwas stumpfsinnigen Mann partiell. Er als linientreues Parteimitglied erwischt sich erschreckt dabei, dass er anfängt, selbständig zu denken. Alma dagegen erlebt einen Reifungsprozess. Sie ist vor dem Hahn zunächst geflohen, einen ganzen Tag ihrer Arbeitsstelle ferngeblieben und wurde sich beim Herumstreifen der Leere ihres maschinenbestimmenden Alltagstrotts bewusst. Nun fühlt sie sich dem aufstörenden Tier fast mystisch verbunden.
Als Andreas das beunruhigende Tier umbringen will, entreißt Alma ihrem Mann das Schlachtmesser und stößt es ihm in den Bauch. Den Hahn lässt sie durchs Fenster entwischen, bevor die Polizei sie abführt.
Mit beißender Ironie schildert Schütz Funktionärsängstlichkeit, Stumpfsinn und Bösartigkeit, dabei die groteske Verlebendigung von Dinglichem wirkungsvoll einsetzend.
"Ein Stück, nur aus einem Schrei gebaut, das wäre ehrlich", schreibt Stefan Schütz in seinen Bemerkungen Schwierigkeiten beim Schreiben eines Stückes - und sei es, so wollen wir hinzufügen, ein Hahnenschrei.

8 D, 13 H, St, Verwandlungsdek

UA: 19.09.1980 · Theater der Stadt, Heidelberg · Regie: Lutz Hochstraaate

Weitere Stücke

Alle Stücke
Theater
Stefan Schütz

Monsieur X oder Die Witwe des Radfahrers

2 D, 5 H, (3 H bei Doppelbesetzung), Simultandek

Der Chefroboter erzählt von einer lang vergangenen Zeit, der Menschenzeit, in der es noch den illusionären Zustand der Liebe gegeben hat: Im ersten, dritten und fünften Bild begegnen einander A (Dichter) und B (Muse). A versucht das Endspiel ihrer Beziehung zu inszenieren, indem er B in die Arme ihres Liebhabers X (Filmregisseur) treibt. Inzwischen wartet X in den Bildern zwei und vier auf eine Nachricht der Geliebten B. Der Chefroboter aber will und muss X seine Mittlerdienste verweigern. So verschwören sich A und X im sechsten Bild gegen B. A wünscht B nicht mehr. X wünscht B. Aber B kann sich nicht entscheiden. Die Verschwörung scheitert und in Bild sieben schlagen die beiden Männer ihre letzten Schlacht miteinander und mit der Frau, bis X B mit einer Flasche vergewaltigt. Dem brutalen Akt folgt die Geburt zweier Roboter, die nun ihrerseits versuchen, den menschlichen Liebesakt zu simulieren, dabei aber nichts empfinden. In zwei epischen Einschüben nach den Bildern fünf und sieben wird die Minotaurossage zur Geschichte der Witwe eines Radfahrers, die nach einem tödlichen Unfall ihres Mannes mit dessen Fahrrad ein Kind zeugt.
Die Personen des Stückes haben ihre Identität verloren, besonders die männlichen Protagonisten sind zu Masken der patriarchalen Gewalt degeneriert. Die Muse scheint das Opfer zu sein, bis sie selbst ein Simulacrum von Gewalt und Abhängigkeiten inszeniert. Dort, wo wir die dichteste Form von Menschlichkeit ahnen wollen, sitzt der Stachel des Verrats am Menschsein. Die Liebe, eine Illusion, deren Hüllen Austauschbarkeit des modernen Menschen, patriarchale Gewalt und Machtstrukturen verdecken.

Theater
Stefan Schütz

Hotel Abendland

5 D, 6 H, Verwandlungsdek

Hotel Abendland ist ein bitterböser Krimi um Leben und Tod, ein Vater-Tochter-Kampf, ein Kampf zweier "Toter auf Abruf". Sex & Crime im "weiße-Kragen"-Milieu der globalen Wirtsachaftsordnung.
Im Angesicht ihres Todes erpresst Tochter Gala ihren krebskranken Vater Hourany, der ein gigantisches Pharma-Imperium leitet. Sie will seine Macht brechen und sein Unternehmen zerstören. Houranys Laboratorien haben Krankheit und todbringende Seuchen in der Welt verbreitet, um dann die passenden Medikamente und Seren zu liefern. Durch diese Machenschaften erlangte Hourany nicht nur immensen materiellen Gewinn, sondern auch den Ruf eines Wohltäters und Retters der Menschheit. Jetzt hat Gala ihrem Vater den Krieg erklärt. Die verwöhnte Millionärstochter entpuppt sich als Rachegöttin, die die Verhältnisse zum Tanzen bringen will. Aber Hourany will nicht abtreten.
Symbolisch findet dieser Krieg im Hotel Abendland statt. Gala, die im orientalischen Zimmer des Hotels wohnt, hält sich an alte kanaanäische Gottheiten (Anat, Baal, Mot); Hourany, im römischen Zimmer, führt Zwiegespräche mit dem (Christen-)Gott. Da sich Gala zunehmend mit Anat identifiziert, und Hourany sich für Gott hält, wird der Krieg zum Kampf zweier Prinzipien: Festhalten an den alten eingefahrenen Strukturen oder sich Aufbäumen im lebendigen Tanz des Chaos'. In diesem Machtkampf wirft Stefan Schütz die alte Frage auf, was das Geschick der Welt bestimmt. Oder - was ist die treibende Kraft der Geschichte?

UA Frei
Theater
Stefan Schütz

Net & Nan

1 D, 5 H, 1 Dek

Nan hat sich zum Sterben niedergelegt. Aber der Tod lässt auf sich warten. Net, mit dem er sich das Bett teilt - Nan gehört es in der Nacht, Net am Tag - wird ungeduldig. Zu viele Tage schon musste er auf Schlaf verzichten. Aber der Tod lässt sich auch durch Erzählungen über das Sterben anderer, und seien sie römische Kaiser gewesen, nicht anlocken. Und als er schließlich doch kommt, stellt er sich zu Net. Nan - "In diesem Raum gibt's nur einen, der erledigt, ruiniert und kaputt ist, mich!" - verscheucht den kichernden Tod - bis auf weiteres. Er will weiter passiv dahinvegetieren, bis seine Stunde schlägt.
Das Leben fordert Handlung, der Vermieter fordert Geld. Net geht auf die Suche nach Kapital, um Nan wie den berühmten Hungerkünstler ausstellen zu können.
Nan provoziert derweil die Putzfrau Sirrah mit indignierenden Fragen nach Himmel und Hölle. Ausgestiegen aus dem Spiel um "Leben und Tod" gibt er auch gerne den Paravent für einen Vatermord. Der Tod aber, wieder gutgelaunt und verspielt, geht strikt nach Plan vor: der Vermieter steht nicht auf seiner Liste.
Net dagegen stirbt, und Nan folgt ihm schließlich aktiv "ins große Zelt" - endlich das Nichts.

Stefan Schütz' Net und Nan erinnern nicht von ungefähr an Figuren aus dem Beckettschen Kosmos. Bei ihm ist Leben und Tod gleichermaßen absurd. Durchsetzt mit ironisch auffrisierten literarischen Zitaten, gewinnt der Defätismus die Oberhand: "Nicht alles im Leben ist sinnlos, aber alles Leben ist sinnlos." Allein: Wenn die Abschaffung des Lebens - und damit des Todes - so wie hier auch mit Humor vorstellbar ist, kommt das fast wieder einem Auftrag zum Überleben gleich. Denn wer wollte sich das große Spiel entgehen lassen?

Theater
Stefan Schütz

Kohlhaas

7 D, 26 H, (Doppelbesetzungen möglich), Verwandlungsdek

Diese Darstellung des Geschichtsverlaufes und die damit verbundene Anforderung an eine Gesellschaft der Zukunft steht am Ende des Weges, den die Figur Kohlhaas in Stefan Schütz Stück durchläuft. Dem ruhig und zufrieden lebenden Bürger Kohlhaas wird durch einen Junker Unrecht zugefügt. Seine Welt bricht zusammen als er merkt, dass ihm die Gerichte sein Recht nicht verschaffen wollen und er macht sich auf zu einem privaten Rachefeldzug, der dann immer mehr zum Kampf einer ganzen Gruppe Unterdrückter wird. Der Kampf ist zunächst erfolgreich, aber Kohlhaas merkt bald, dass er keine wirkliche Veränderung bewirkt, sondern dass sein Kampf gegen das Unrecht auch wieder neues Unrecht hervorruft. Deshalb sucht er den Weg, der weder die Fortstetzung der Gewalt noch die Aufgabe bedeutet: Er will - für kurze Zeit - in Wittenberg die Utopie einer herrschaftsfreien Gesellschaft verwirklichen, um damit ein Zeichen zu setzen und eine Hoffnung zu wecken, die über seinen Tod hinaus wirksam bleibt.
Stefan Schütz schrieb sein Stück in Anlehnung an die bekannte Kleistnovelle und rückt den Stoff in eine wesentliche Epoche der deutschen Geschichte, die Zeit der Bauernkriege von 1525. Der Hauptpunkt ist für Schütz dabei weniger die historische Darstellung einer gescheiterten Revolution, sondern die Diskussion von Unterdrückung, Gewalt, Macht, Veränderung und Utopie. Diese Diskussion zielt auf unsere Gegenwart. Sie liefert keine Patentrezepte, sondern will uns auffordern, unsere Wirklichkeit zu reflektieren, neue Möglichkeiten für das gesellschaftliche Zusammenleben zu finden und die positive Utopie zu denken.

Theater
Stefan Schütz

Wer von euch

1 D, 5 H, 1 K, Chor, 1 Dek

Ihr alle. Und kein 'Aber'. Nicht 'die da', kein 'wir'.
Dennoch: Wer von euch ist gemeint?
Der Mann, die Frau? Im Angesicht des Todes die Rollen tauschend: Er, schwach, Sie, stark? Plötzlich energisch?
Oder vielleicht Hieronymus und Habermass? Die beiden Showmaster, die Inkarnation dessen, was ihr Dritte Welt nennt. Die beiden Schwarzen, Rache an den Imperialisten schwörend, und plötzlich, die Rollen wechselnd: Aufgefressen gehört sie, die Erste Welt.
Nein, womöglich sind es die, die sich nicht länger als Subjekt der Geschichte begreifen - Figuren der Antithese: eben Objekte, die sich tanzend auflehnen gegen die Muster und ihre Wächter. Letztendlich Maschinenstürmer, denn tauschen sie nicht etwa eine Illusion gegen die andere Illusion?
Vielleicht der Chor der Toten, euer Ensemble, endlich benennend, worüber ihr nicht wagt zu reden? Der dennoch nicht beansprucht, den Garten, wie Voltaire hofft, nun zu bestellen, wissend, wie rigide überkommende Muster verinnerlicht wurden.
Also wer von euch! Doch der Sohn, der einsehen muss - trotz des Todes des Vaters gibt es kein Entrinnen, keinen Weg aus dem Sog des alten Herrn. Also er?
Möglicherweise ist doch die Frau gemeint, die Tote, deren Erinnerung das vergeudete Leben als Ehefrau und Mutter abräumen will?
Wer von euch ist eine illusionslose, exakte, manchmal deprimierende, manchmal witzige Bestandsaufnahme deutscher Realität und Gesellschaft unter den veränderten Bedingungen des Mauerfalls.

Theater
Stefan Schütz

Die Seidels (Groß & Gross)

3 D, 5 H, Verwandlungsdek

Im Mittelpunkt stehen Groß und Gross, die beide auf verschiedene und doch ähnliche, verschwisterte, Weise, mit ihrer Existenz zu Rande kommen. Der eine, Gross, ist ständig auf der Flucht vor eingebildeten Verfolgern, die er die "Seidels" nennt und für eine gigantische Verschwörergruppe hält. Der andere, Groß, glaubt, das Leid aus der Welt schaffen zu können, und verfolgt seine Mitmenschen ungefragt mit seiner Güte. An der Dissoziation des Wunsches und des Möglichen geht er zugrunde.
Erhöht Gross seine Existenz, indem er sich als Zentrum ominöser Machenschaften sieht, sich als verfolgungswürdig betrachtet, so verleiht Groß seinem Leben Sinn, indem er sich für aufopferungswürdig hält. Doch seine Zuneigung zu den Mitmenschen gestaltet das Leben nicht vernünftiger und erträglicher, sondern legt die Sinnlosigkeit vollends bloß. Das Stück gibt in seinem Mittelteil ein ausführliches Beispiel für diesen Vorgang.
Groß will sich von seinen Freunden Schmidt und Ziegler trennen, weil seine Freundin Sophie seine Hilfe braucht. Die Freunde werfen ihm Verrat vor, versuchen ihn zu halten. Groß, der lieber ginge, folgt ihnen dennoch und muss ihnen aus der Klemme helfen, indem er die beiden der Polizei gegenüber als Irre deklariert, die ihm, dem Arzt, zum Experiment dienen. Kaum hat er den Freunden geholfen, fühlt er sich verpflichtet, die Frau seines Freundes, Hannah, über das Vorgefallene zu informieren, auch wenn Sophie ihn schon lange erwartet. Hannah missbraucht ihn zum Zeugungsakt und erkennt ihn nachher nicht wieder, während Sophie von seinem Freund vergewaltigt wird.

Theater
Stefan Schütz

Odysseus' Heimkehr

3 D, 14 H, (Doppelbesetzungen möglich), St, Verwandlungsdek

"Als Odysseus nach jahrelanger Irrfahrt im zerfetzten Gewand eines Bettlers hungrig und durstig am Strand von Ithaka erwacht, trifft er zwar auch bei Stefan Schütz den Sauhirten Eumaios, der ihn bewirtet. Doch schon Speis und Trank sind ihm unerträglich. Odysseus erkennt sein Land nicht mehr wieder. Es ist von Grund auf entstellt. Menschen und Vieh sind von Schorf, Grind und Aussatz befallen, der die Frauen geil macht und die Männer schwächt. Die Menschen sind übermäßig gealtert, während Odysseus, in ihren Vorstellungen seit Jahrhunderten tot, jung geblieben ist. Telemachos eilt nicht aus Sparta herbei, um dem heimgekehrten Vater im Kampf gegen die Freier beizustehen - er ist zum Buchhalter des angeblich wohltätigen Schorfs geworden und wirbt wie die Freier um Penelope, seine Mutter. Penelope repräsentiert die Macht im Land, sogar gleichsam das Land selbst, und will die Frau dessen werden, der sie am besten begattet, jeden probiert sie aus. Bei solchen Zuständen ist Odysseus, der einzig Gesunde auf Ithaka, ein Außenseiter, der sich leicht zum Unhold stilisieren lässt. Er möchte sein Land vom Schorf befreien. Aber das ist aussichtslos, und um jedenfalls die Macht zurückzugewinnen, kommt er auf die Idee, gegen den vom Schorf verursachten Juckreiz fürs Volk öffentliche Kratzmaschinen einzurichten. Er versucht , Telemachos auf seine Seite zu ziehen, erzählt ihm von seinem Plan. Gleich darauf wird er ermordet. Telemachos heiratet Penelope und errichtet eine Diktatur, und zwar mit Hilfe von Odysseus' Kratzmaschinen, die er sogleich bauen lässt und kontrolliert. Er spricht ihre Benutzung den Leuten als Lohn zu oder enthält sie ihnen als Strafe vor. Die höhere Instanz, auf die er sich zur Legitimation seiner Herrschaft beruft, ist der schon zum Mythos gewordene Odysseus." (Süddeutsche Zeitung)

Digitales Textbuch