Theater

Marlene Streeruwitz

Sloane Square.

Londoner U-Bahnstation, neunziger Jahre.
Im Londoner U-Bahnhof "Sloane Square" treffen die Familien Fischer und Marenzi, österreichische Touristen, aufeinander. Durch die Verspätung eines Zuges müssen sie befürchten, ihren Rückflug zu versäumen. Während die Männer versuchen, ein Taxi zu organisieren, bleiben die Frauen zurück. Die junge Schwangere gibt Anlass zu Gesprächen über Verhütung, Kindermachen, Kinderkriegen und Mutterschaft. "Manchmal habe ich das Gefühl, daß es mich. Gar nicht gibt. Nie gegeben. Eigentlich.", sagt Frau Marenzi in einem der Dialoge über "Frauensachen", die immer wieder durch das Auftauchen einer Punkergruppe unterbrochen werden. Mehrmals hintereinander und von den Frauen unbemerkt erstechen die schwarzen Gestalten einen aus ihrer Reihe und werfen ihn auf die Gleise. Eine Strotterin zerkleinert fachmännisch die Leichen, die sie dann in Plastiksäcken verstaut, und zwischendurch schlendert der Dichter D'Annunzio über den Bahnsteig. Dann kehren die Männer zurück, die Bahnen fahren wieder, und alle brechen überstürzt auf.

4 D, 7 H, 1 Dek

UA: 03.07.1992 · Bühnen der Stadt Köln · Regie: Torsten Fischer

Übersetzt in Japanese

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UA Frei
Theater
Marlene Streeruwitz

Boccaleone.

3 D, 8 H, St, 1 Dek

Es geht um Überleben. Zuerst um Überleben in den Wirren der Globalisierung und einer pädagogischen Krise. Und in der Ehe stimmt es auch nicht so ganz. Hans und Ella Horvath sind sich nicht einig, wie es mit dem von der Mutter geerbten Flugzeugreinigungsunternehmen weitergehen soll. Ella möchte fusionieren und elegant werden. Hans will das Unternehmen so weiterführen, wie es die Frau Mama begonnen hatte. Als Familienunternehmen. Die Beschäftigung von Asylbewerbern bringt schließlich doppelte Einnahmen. Und eine Marge von 80 %. Das gibt man auch bei kleinster Rendite nicht auf.
Aber dann taucht Professor Chrobath auf und macht Tochter Tini ein unanständiges Angebot. Vater Horvath tobt und der Professor atmet nicht mehr so richtig. Und weil alle den toten Professor gesehen haben, muss die Situation bereinigt werden. Ein Gartenschlauch und die Abgase vom VW-Bus für den Transport der Arbeiter genügen. Schon ist ein Container eine Gaskammer. Und das ganze angezündet ergibt einen Versicherungsfall. Aber. Hans verletzt sich schwer bei diesem Brand. Auch Brandstiften will geübt sein. Die stumme Grete, die Schwester von Hans, muss wieder reden und die Dinge in die Hand nehmen. Und wie ihre Mutter wächst sie in der Krise über sich hinaus. Sie rettet den Betrieb. Auch während der Seuche wird verdient. Unter der Diktatur der Hygienebehörde. Und wie die Kleinbürger aller Zeiten rettet sie das Schöne. Das Gute musste zwischen Kompromissen zerrieben werden. Die Wahrheit kennt keiner. Es sind nicht einmal alle Unwahrheiten bekannt. Und zum Glück entkommt das Liebespaar. Werden sie es besser machen im nächsten Jahrtausend?

Theater
Marlene Streeruwitz

Tolmezzo.

4 D, 3 H, 1 Dek

Barbies als hochschwangere Opernball-Debütantinnen nach einer Massenvergewaltigung, Kens als Heilige Sebastiane, Spiderman, der nur in die Oper geht und exklusive Monologe über Gott und Eros zu halten weiß, drei alte Sängerknaben als Straßenmusiker. Das Dröhnen von Güterzügen, die nach Auschwitz rollen, untermalen ihren Tanz. Die übrigen Besucher eines Wiener Kaffeehauses - Kleinbürger und enttäuschte Existenzen - empfinden diese Erscheinungen als normal oder registrieren sie nicht. Sie alle beteiligen sich an dem Ausverkauf des "alten Wiens". Klischees werden bedient, hochgehalten und demoliert: die Todessehnsucht, Mozartkugeln, Sissi, das große Gefühl: "Wir sind ja schon nicht mal mehr ein Museum." Und in all dem erinnert sich Manon Greeff an ihre Ehe mit einem Alkoholiker. Nach langen Jahren im Ausland besucht sie mit 75 ihre Heimatstadt Wien und speziell den ihr ehemals vertrauten Platz mit dem Kaffeehaus. Sie erinnert sich auch an ihre Freundin, blond und groß, die "eine der ersten" war, die abtransportiert wurde. Begleitet wird Manon von ihrer Tochter Linda, die sich angesichts des absurden Panoptikums vehement dagegen wehrt, etwas mit Österreich und Wien zu tun zu haben. Aber sie steckt mitten drin.

Außer in Zitaten - und das Stück steckt voller Zitate - gelingt es den Figuren nur mehr, im Staccato zu sprechen. Eine beschädigte Sprache - für beschädigtes Leben. Die Motive wiederholen sich in Variationen und verweben sich zu einer großartigen und bösen Groteske.

"Mit diesen Texten von Marlene Streeruwitz ist eine neue Fantastik aufs Theater gekommen - aggressiv, unbekümmert und unverschämt vital." (Siegfried Kienzle)

Theater
Marlene Streeruwitz

Brahmsplatz.

1 D, 2 H, 1 Dek

ALTE FRAU: Schlimm. Es wir immer schlimmer mit ihm. Gabor. Ha! Der liebe Cousin Wilhelm, der sich Gabor nennen muss. Seit dem 56er Jahr. Gott sei Dank bleibt er jetzt wenigstens bei Gabor. - Nach dem Fall von Saigon! Diese vietnamesischen Namen! - Wieso brauchen sie denn so lange. - Der Gabor. Aber vorlesen kann er jetzt wenigstens nicht mehr. Beim Essen Dienstag und Donnerstag: Rilke. Na gut. Samstag und Sonntag: die Liebesbriefe von de Sade. Rührend. Die ganze Perversion. Und Montag, Mittwoch und Freitag. Mein Kampf. Beim Essen! Mein Gott! Was für ein Deutsch. Appetitzerstörend. Ein richtiger Appetitzügler. Dieser Hitler. So gesehen fast ein Glück. Das Essen auf Rädern. Jeder seine Portionen in seinem Zimmer. - Wenn er nur nicht vor mir stirbt. Immer war er früher dran. Immer.

ALTE FRAU: Er hat es nie verwunden. Das Kriegsende. Er hat wirklich alles geglaubt. Dafür hat schon der Lehrer Neumaier gesorgt. War ein ganz Fanatischer. Ein richtiger Illegaler. Nicht so wie die anderen nachher. Wie der Küchelbeck, der sich das Abzeichen von der Traut aus der Buchhaltung ausgeborgt hat. Wie die Nazis gekommen sind. Und der Gabor immer auf der falschen Seite. Auch wie er dann mit den Waffen. Aber da hat er wenigstens verdient. Im Kongo. Und dann. In Vietnam. Er hat es aber trotzdem immer sehr persönlich genommen, wenn es dann schiefgegangen ist. Ich habe die Nazis ja nicht mehr wollen, wie sie dann da waren. Und der Vater hat natürlich recht gehabt. Aber wer hätte das zugegeben. Damals. Na ja. Sie haben das alles gar nicht miterlebt.

Theater
Marlene Streeruwitz

Bagnacavallo.

3 D, 5 H, St, 1 Dek

Die Unterworfenen haben den Königen deren Macht also wieder einmal bestätigt, da sie sie nicht definieren konnten, sprachlos wie sie waren; (...)Deshalb kann man nicht die zur Verantwortung ziehen, welche Macht haben, sondern man muss diejenigen hervorreißen, welche die Mächtigen in ihrer Unterwerfung gemacht haben - immer entschlossener in ihrem Willen zur Unterwerfung. Um das zu beschreiben, muss man sich mit so was auskennen, auch mit dem Blut, das beide, Männer wie Frauen, als Fachmänner (...) als ihr ureigenstes Putzmittel für sich reklamieren (aber sie machen damit natürlich nur noch mehr Dreck), die einen, indem sie es ergießen, die anderen, indem sie es auch vergießen, aber aus sich selbst heraus. Ich kenne keine, die sich in diesen Sachen besser auskennt als Marlene Streeruwitz. Und diese Unbeschreiblichkeit dessen, dem wir alle unterliegen, macht ihre Stücke gleichermaßen konkret wie vollkommen rätselhaft. Und jeden Moment kann sie das Konkrete ins Rätselhafte umschlagen lassen. Da sich die Macht nicht beurteilen lässt (...) möchte sie vielleicht langsam, sie war ja immer da, und gut genug: fortgehen. Sie möchte vielleicht, dass einmal andere sie ausüben, bitte sehr, probieren wir das halt, es wird sich nichts ändern. Aber man kann das immerhin zeigen in den Petrischalen, die Marlene Streeruwitz da auf die Bühne stellt, unter stetigem Umrühren zehn Minuten auf kleinster Hitze. Wen oder was suchen Sie denn in diesem schwachen Dunst, der vom Herd aufsteigt, oder ist das etwa eine Wiese? Der Morgen ist schon da, der Morgen kann es nicht sein. Aber. Das Leben. Das wird es ihr schon besorgen? Was besorgen? Keiner lügt hier. Alle lügen. Es ist Theater. Genau der richtige Ort dafür. (Elfriede Jelinek)



UA Frei
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Marlene Streeruwitz

Der Imbiß zur Säge.

2 D, 5 H, Verwandlungsdek

"Setzen Sie sich doch. Selbstmord. Das ist immer beeindruckend. Finden Sie nicht. Ich finde Selbstmord immer beeindruckend." Friedl und Fritzi, auf dem Weg zur Beerdigung von Fritzis Großonkel, folgen Freyas Aufforderung und nehmen teil am gemeinsamen Mahl im Imbiß. Obwohl Fritzi das Lokal nicht geheuer ist. Obwohl sie keine Leberknödel mag. Obwohl Ulrich, der andere Gast, mehr als gereizt wirkt. Und obwohl die Betreiber Udo, Kurt und Freya ihre Geschwisterliebe deutlich ernster nehmen als andere. Friedl hat nun mal Hunger.
Immerhin: Fritzi kommt ins Reden. Sie erzählt von ihrer Familie und wie ihre beiden Brüder und sie früher mit den Leberknödeln gespielt haben und darüber in hysterisches Gelächter ausbrachen. Auch, woran ihre Brüder gestorben sind, erzählt sie.
Schlussendlich ist sogar ihr Rat als Richterin gefragt. Denn das Essen im "Imbiß zur Säge" kommt einem letzten Abendmahl vor einem Menschenopfer gleich. Die Betreiber tun nichts, um diese Tatsache vor Friedl und Fritzi zu verheimlichen. Die neue Form des Gesellschaftsvertrages: der Selbstmord, offen verhandelbar. Man ist, was man isst, und manchmal isst man eben sich selbst.
Am nächsten Tag, auf der Rückfahrt, ein zweiter Halt. Fritzi und Friedl. Verlogenheiten, die nicht mehr funktionieren, Ziele, die neu definiert werden, Depressionen, die keine sind. Fritzi, wenig irritiert über Friedls Morphisierung in einen riesigen Knödel, geht.

Säkularisierung, gar Aufklärung? Das war einmal. Lakonisch entblößend erzählt Streeruwitz darüber, wie nah sich Archaik und Postmoderne, religiöse Riten und Beziehungsstress wieder sind.

Theater
Marlene Streeruwitz

Dentro.

4 D, 3 H, 3 kleine Mädchen, St

Was hinter den Kulissen der Bühnenwelt wohl stehen mag? Wer sich hinter den Großen und Heroen wohl verbirgt? Da gilt es den Blick für etwas anderes zu schärfen, für die Abseitigen im Hintergrund, für die Zuarbeitenden, die Opfergänger: die Frauen vor allem. Um diese nämlich geht es Marlene Streeruwitz im Learschen Haushalt. Drei Töchtern ist die Mutter früh schon weggestorben, der königliche Vater, misslaunig und alt, nur ein saufender Unhold. Zweien ist der eigene Ehemann nur ein Klotz am Bein. Bei Cordelia, der Jüngsten, soll's zwar anders werden, gelingen will es ihr aber nicht. Auch sie wird sich dem Gesetz der Männer beugen müssen. Von heiß für sie entflammten, aber leider auf ihren Erstbesitz bedachten Jünglingen im Stich gelassen, stürzen sich andere auf das wehrlose Mädchen. Was der eine sich vergewaltigend besorgt, muss sich der eigene Vater noch ersehnen. Versoffen, krank und pustelig vergällt er seiner Tochter, sie begehrend, endgültig die Kinderstube. Verwirrt und zerstört bleibt Cordelia auf der Strecke, der Schwestern Rat in den Ohren: "Das ist so abgemacht. Wir müssen es falsch machen. Sonst machen wir es nicht richtig." Goneril und Regan halten da schon länger durch. Brave Kinder spielen mit ihren Puppen, anständige Mütter mit ihren Kindern. Und um Orangenmarmelade kreist das Gespräch englischer Hausfrauen. Dass ihnen dann aber von ihren Liebhabern übel mitgespielt wird, geht zu weit - das Frauenschicksal erspart ihnen nichts. "Wir Frauen. Wir sind schon in ein Grab geboren." Unsentimental und konsequent tragisch schickt sich Goneril an, ihren Kindern, der Schwester und sich selbst die Grube auszuheben. Übrig bleibt nur ein kranker, machtbesessener Mann namens Lear, um dem Theater seine, und nur seine Geschichte zu vermachen. (Theater Bielefeld)

Theater
Marlene Streeruwitz

Jessica, 30.

2 D, oder mehrere D

Jessica Somner, 30, sieht gut aus. Sie ist jung und intelligent. Jessica macht alles so, wie es sich für die Generation Golf Zwei gehört. Es muss nur noch ein Job her und die Liebe, dann wird alles gut sein. Aber auf einmal sind die Freundinnen nicht mehr solidarisch, und der Sex mit dem Politiker ist überhaupt nicht mehr heiß. Jessicas Anpassung hat nicht gereicht. Jessica macht nicht mehr mit und entscheidet sich für Gegenstrategien. Sie bringt die Machenschaften der Mächtigen ans Licht der Öffentlichkeit, im Gegenzug privatisiert sie ihren Körper. Sie besteht auf ihrer Würde, und die Liebe bekommt eine Chance.
Veronika Halden, 56, sieht gut aus. Sie ist vital, intelligent, Lateinprofessorin. Was ihre Tochter zeitweise treibt kann sie nicht immer gut heißen, aber die wird schon wissen, was sie tut. Und was darf eine Mutter sagen? Wann muss sie schweigend zusehen? Wie viel ihrer eigenen Erfahrungen darf sie ihrer Tochter überhaupt gestehen? Aber wo die Jüngere sich mit dem Schönheitswahn ihrer Jahre auseinandersetzen muss, da kann die Ältere ihre Reife einsetzen und ihre kritische Energie ausspielen.

Zwei Frauen, zwei Generationen, ein Ursprung: Marlene Streeruwitz hat mit der dramatischen Fortführung des atemlosen Gedankengangs ihrer Protagonistin aus Jessica, 30. eine faszinierende Gegenüberstellung von Mutter und Tochter, von ihren Unterschieden und Gemeinsamkeiten, von ihren Schwächen und Stärken, von ihren Ängsten und Hoffnungen vorgenommen. Zwei starke Monologe für mindestens zwei starke Schauspielerinnen.

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