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Anne Carson

Neu im Programm: Die große kanadische Dichterin Anne Carson in einer Übersetzung von Maria Milisavljević

Die kanadische Dichterin und Essayistin Anne Carson kam 2021 neu zu S. Fischer Theater & Medien. Ihr Stück BAKKHAI nach Euripides kam unter dem Titel BITCH, I’M A GODDESS am Staatstheater Hannover zur deutschsprachigen Erstaufführung. Bettina Walther stellt Anne Carson und ihre Version von Euripides’ dunkelster Tragödie vor. Ursprünglich haben wir uns auf eine Premiere im März gefreut, aber da die Theater pandemiebedingt weiterhin geschlossen bleiben, wurde die Produktion auf die Spielzeit 2021/22 verschoben.#NeuImProgramm #Dionysisch

Anne Carson © Peter Smith

Mit BAKKHAI (1 D, 7 H) hat die ausgewiesene Kennerin antiker Tragödien Anne Carson eine ‘neue Version’ von Euripides’ dunkelster Tragödie gedichtet und sich dabei virtuos der Mythen des dionysischen Kultes bedient. Carson blickt tief in die Abgründe sexueller Unterdrückung und familiärer Gewalt, erforscht dabei Gender-Zwänge ebenso wie die Schrecken despotischer Herrschaft und erzählt sehr zeitgemäß von einer Welt, die an der Radikalisierung ihrer Gegensätze zerbricht. Mit der deutschen Übersetzung dieser atemberaubenden neuen Version, die 2015 am Londoner Almeida Theatre uraufgeführt wurde, hat das Staatstheater Hannover die Dramatikerin Maria Milisavljevic beauftragt. Maria Milisavljevic hat selbst lange in Carsons Geburtsstadt Toronto gelebt und dort am Tarragon Theater gearbeitet - unter anderem als International Playwright-in-Residence.

Pentheus, Herrscher über Theben, will einen Staat nach seinen Vorstellungen: Ordnung soll herrschen und Vernunft. Der anarchische Hype um den dahergelaufenen Dionysos, der behauptet Zeus‘ Sohn zu sein, und dessen wilde rituelle Anbetung passen ihm nicht. Ausschweifungen, Sex, Alkohol gefährden die öffentliche Moral. Aber vor allem die “Frauen, die von zuhause wegrennen. Bakkhische Möchtegernrituale oben in den Bergen. Weiber die vollkommen durchdrehen, wegen jemandem, den sie Dionysos nennen” sind ihm ein Dorn im Auge. Diesem Wahnsinn, bei dem sogar seine Mutter Agave mitmacht, muss ein Ende gesetzt werden, ins Gefängnis gehören sie, die entfesselten Verehrerinnen des Dionysos.

Doch Pentheus unterschätzt die Bakkhai - überhaupt unterschätzt er die Sehnsucht der Menschen nach einer Existenz jenseits der Normen, nach Gefühlen und nach Befreiung von Zwängen. Und vielleicht unterschätzt er auch seine eigene Sehnsucht nach einem anderen Dasein. Eines, das Dionysos verheißt. Ein Leben “Tag wie Nacht frei von Kummer und Trauer” - während Pentheus “gegen die Freude” ist, “gegen das Lachen, gegen den Klang der Flöte - ganz zu schweigen vom erhabenen und erhebenden Frohsinn der Trauben und des Weins so wohltuend für Körper, Seele und der Psyche in tiefinnerster Gestalt.”
Ein Kampf um die Gunst des Volkes entbrennt – Pentheus‘ kühler Verstand gegen das anarchische Lustprinzip des Dionysos und seine Versuchungen, Nüchternheit gegen Rausch, Ekstase gegen Disziplin.
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Vernunft gegen Gefühl - nicht erst seit Pandemiezeiten stehen sich gegensätzliche Positionen innerhalb der Gesellschaft immer unversöhnlicher gegenüber. Wie gehen wir damit um? Wie kann Spaltung und Populismus überwunden werden und was passiert, wenn das nicht gelingt. Mit diesen elementaren Fragen wird sich der israelische Regisseur und Choreograf Guy Weizman in seiner Inszenierung von BITCH, I’M A GODDESS auseinandersetzen.

Dionysos:

Ich bin der Gott, der triumphiert.
Ihr habt Eure Chancen mir zu huldigen vertan.
Das war nicht sehr schlau.
Nun müsst Ihr die Stadt verlassen und unter Fremden wandern.
Ihr seid entehrt.
Und Ihr habt mich beleidigt—
weil Ihr behauptet habt ich sei ein Sterblicher.

Anne Carson

Anne Carson wird in Kanada und den USA längst als eine der wichtigsten Stimmen der Gegenwart gefeiert. 1950 in Toronto geboren, studierte sie Griechisch und unterrichtet als Altphilologin. Die Parallelität von Antike und Gegenwart durchzieht ihr ganzes Werk. Neben der Sappho-Studie Eros the Bittersweet und ihren Sappho-Übersetzungen entstanden auch Studien zu Celan und Hölderlin. Bei S. Fischer erschienen in der Übersetzung von Anja Utler: Decreation. Gedichte. Oper. Essays (2014) sowie Rot. Zwei Romane in Versen (2019).

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© Linda Rosa Saal 2018

Maria Milisavljevic

Maria Milisavljevic, geboren 1982 in Arnsberg, studierte Englische Kulturwissenschaften, Englische Literatur und Kunstgeschichte. Vor und während ihres Studiums arbeitete sie in der freien Szene und hospitierte an verschiedenen Theatern in Deutschland und London. Milisavljevic promovierte über Autorentheater am Londoner Royal Court Theatre. Von 2011 bis 2015 war sie am Tarragon Theatre in Toronto als Regie- und Dramaturgieassistentin engagiert. Seit 2013 war sie dort International Playwright-in-Residence. Mit ihrem Stück Brandung gewann Maria Milisavljevic 2013 den Kleistförderpreis für junge Dramatik. Ihr Stück Beben wurde für den Mülheimer Dramatikerpreis 2018 nominiert, sowie 2017 mit dem Autorenpreis des Heidelberger Stückemarktes und dem Else-Lasker-Schüler-Stückepreis ausgezeichnet. Neben ihrer Autorinnentätigkeit arbeitet Milisavljevic als Übersetzerin. Maria Milisavljevic lebt in Berlin.

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