DSE Frei
Theater

Michel Deutsch

Skinner

(Skinner)

Ein Meerarm, am anderen Ufer Europa. Flüchtlinge zusammengepfercht in einer Lagerhalle. Warten. Seit Monaten. Bei der Ankunft nimmt einem die Organisation des Schleppers die Papiere ab. Von da an nur noch Warten. Warten, dass einen der Schlepper über seinen rechten Arm, Vandam, zur Überfahrt aufruft. Aber die Logik der Warteliste ist unergründlich. Vandam ist omnipräsent, da keiner weiß, wie er aussieht, und er jederzeit auftauchen kann, man aber nie weiß, wann. Omnipräsent auch die Angst. Hier wird nur geflüstert, für eine verlauste Matratze und eine Decke muss man zahlen, darum kümmert sich Yakov, der sich in dieser Diktatur eine gewisse Stellung erarbeitet hat. Nur Skinner bietet ihm die Stirn. Ihren Kampf fechten sie auf dem Schachbrett aus, während sich die anderen von Menschenfleisch ernähren oder Kadaver zerschnipseln, um noch verwertbare Organe oder Körperteile zu verkaufen: "Drüben zahlen die bis zu 10 000 Dollar dafür!" Skinner verliebt sich in Leila, die Sängerin aus der Bar im Hafen und Hure. Er will sie mitnehmen in die neue Welt. Leila verschafft ihm zwar eine Unterredung mit Vandam, will von seinen Freiheitsträumen aber nichts wissen. Skipper zahlt dennoch die Überfahrt für beide an.

Michel Deutsch beschreibt hier eine Welt, die jederzeit entstehen kann durch den immer größer klaffenden Abgrund zwischen den verschiedenen Kontinenten. Der Mensch, der durch seinen Traum, eine menschengerechte Existenz führen zu dürfen, zum Unmenschen wird.

Deutsch von Almut Lindner

2 D, 6 H, St

UA: Herbst 2002 · Théâtre National de la Colline, Paris

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Theater
Michel Deutsch

Der Souffleur von Hamlet

Deutsch von Andres Müry
2 D, 4 H, 1 Dek

Vor einer Hamlet-Probe belehrt der Theaterdirektor, zugleich Regisseur des Stückes, seinen Souffleur über die Kunst des Soufflierens, da dieser offenbar sein Handwerk nicht versteht. Ungeduldig verweist er ihn dann an seinen Platz.
Der Polonius-Darsteller tritt auf die Bühne und die Probe beginnt. Doch da sitzt der Souffleur nicht mehr in seinem Kasten. Und nun verwirren sich die Dinge mehr und mehr:
Eine Putzfrau des Hauses überreicht dem entnervten Direktor eine Gesundheitsbescheinigung des Souffleurs, ausgestellt von dem Taxifahrer, der ihn nach Hause brachte. Zudem lässt der Souffleur ausrichten, "dass er zur Vorbereitung auf Hamlet erst Finnegans Wake zu soufflieren übt".
Die Situation wird immer absurder. Die Darstellerin der Ophelia trifft mit drei Stunden Verspätung ein. Begleitet wird sie von ihrem Onkel, einem Businessman aus dem Spielermilieu in Las Vegas, der dem verblüfften Theaterdirektor ein Telegramm des Souffleurs überreicht. "--- Weigere mich in den Kasten zurückzukehren - stop ... Das Theater braucht keinen Souffleur mehr. Also adieu. Die Zeit ist abgelaufen. Der Atem gehört Ihnen. Ich bin die Höhe."
Die Verwirrung ist komplett und das Stück endet im Chaos. Während die Mitglieder des Ensembles auf der Bühne die Kontrolle über sich verlieren, deklamiert hoch oben auf dem Schnürboden der Souffleur eine freie Übersetzung von Finnegans Wake.

Theater
Michel Deutsch

Sit venia verbo

Deutsch von Eberhard Gruber
1 D, 2 H, K, St, 1 Dek

Sit venia verbo schildert die Lage des weltberühmten deutschen Philosophen Erwin Meister kurz nach dem 2. Weltkrieg. Michel Deutsch zeigt einen Menschen, der seine ganze Intelligenz, sein umfangreiches Wissen sowie seinen guten Namen den Nationalsozialisten zur Verfügung gestellt hat, anstatt sich, wie man es aus oppositionellen Kreisen von ihm erwartete, von deren Ideologie zu distanzieren.
Ort der Handlung ist die Bühne eines durch Bomben schwer beschädigten Theaters - Meisters Gefängnis. Er wird bewacht und versorgt von einer Frau, deren zwiespältige Gefühle für Meister aus ihrer Funktion einerseits und aus ihrer natürlichen Mütterlichkeit andererseits entspringen.
Szenen, in denen Meister sich in Monologen zu erinnern, zu erklären und zu rechtfertigen versucht, wechseln ab mit Szenen, in denen Frau Gottlieb Meisters Verhalten aus ihrer Sicht schildert, und vor allem mit Szenen, in denen Meister mit Wolfgang Lerner, einem früheren Schüler konfrontiert wird.
Lerner, der vor den Nationalsozialisten geflohen ist, kehrt als amerikanischer Offizier zurück - mit der Aufgabe betraut, den Philosophen zu verhören: Für Lerner geht es vor allem um die Frage, warum dieser früher so von ihm verehrte Professor zu einem Helfer der Nazis werden konnte. Lerner erhält keine Antwort. Hochmütig schweigend verschließt sich Meister sämtlichen Fragen, er entzieht sich allen gängigen Kategorien des Denkens und des Fühlens, und das erlösende Wort der Erklärung spricht er nicht aus. Lerner zerbricht daran, während Meister es bereits 1946 wagt, sich um eine Professur zu bewerben.

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