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Leo Lorena Wyss & Lamin Leroy Gibba & Anaïs Clerc

Der 41. Heidelberger Stückemarkt – Theater von allen für alle

Der 41. Heidelberger Stückemarkt startete mit voller Fischer-Power: die UA von BLAUPAUSE, BRENNENDES HAUS im Autor:innenwettberwerb und die Hörspielpremiere von DOPPELTREPPE ZUM WALD. Johanna Schwung berichtet über die Fischer-Theater-Highlights am ersten Festival-Wochenende.

Zwei Frauen vor einem Baum

Heidelberg hätte die Festival-Eröffnung nicht passender timen können, als mit der UA zu Blaupause von Leonie Lorena Wyss: Die queere Coming of Age Story feierte am Lesbian Visibility Day Premiere. Zwischen Pilzsuppe und Popsongs tauchen wir zusammen mit der Protagonistin ab in die fliederpastellige Poesie pubertärer Verwirrung und sinnlicher Selbstfindung. Bum Bum, schlagen unsere Herzen im Takt zur Popmusik von T.a.T.u. und Katy Perry. Zusammen mit den 13 Cousinenköpfen nicken und wippen wir und strecken unsere Hälse von links nach rechts, um die tempo- und bilderreiche Inszenierung von Hannah Frauenrath aufsaugen zu können. Ein Auf und Ab der Emotionen. Immer wieder schieben sich Bilder und Songs unter die Haut, wecken Erinnerungen, reißen uns mit. Das Ensemble aus vier Frauen und einem Mann, mal Störfaktor als einer der Sebastians, mal eine der 5 Stimmen der weiblichen Hauptfigur, tanzt, singt, performt mit unendlicher Energie. Bum Bum, klatschen unsere Hände gemeinsam beim nicht enden wollenden Applaus.

Unser Puls fällt nicht ab, denn die Aufregung geht am 2. Festivaltag weiter. Unsere Autorin Anaïs Clerc ist mit brennendes haus im Autor:innenwettbewerb nominiert. Ein Stück über drei Generationen eines kleinen Dorfes: der Größte, der Mittlere, die Kleinste. Es thematisiert die Verdingung in der Schweiz, die bis 1978 noch legal stattgefunden hat: Kinder aus sozial oder finanziell schwachen und nicht angesehenen Familien wurden aus diesen herausgerissen, um als günstige Arbeitskräfte auf Bauernhöfen besser gestellter Schweizer Familien eingesetzt zu werden. Nach dem Tod des Größten kommen die Kleinste, die aus dem Dorf in die große Stadt zog, um Künstlerin zu werden, und der Mittlere, der sich nie selbst verwirklichen konnte, zusammen. In einem hypothetischen Dialog sprechen sie mit dem Größten, der als einer, der die Verdingung erfahren musste, nicht die Chance hatte zu erzählen und gehört zu werden. Der einzige Weg seinen Traumata von Missbrauch und Gewalt zu entkommen, war die Flucht in seine Traubenwelt. Anaïs Clercs Text schafft es nicht nur, die angespannte Atmosphäre zwischen den drei Figuren in den Zwinger in Heidelberg zu übertragen. Wie im Stück auch, vermittelt er die Kraft das Schweigen zu brechen, die drei anwesenden Generationen im Publikum zu berühren und vor allem zu verbinden, in den Austausch zu bringen: Kommunikation als machtvolles Mittel, für ein Theater von allen für alle.

Am selben Abend, nach vielen Programmpunkten, noch ein Highlight: Die Premiere des Hörspiels Doppeltreppe zum Wald. Lamin Leroy Gibba gewann im vorigen Jahr mit seinem “Black Well Made Play” den SWR2-Hörspiel-Preis. Es hatte eine einnehmende Power, als neun People of Colour auf der Heidelberger Bühne diesen Text zum Leben erweckten. Und diese Energie hat sich auf das Hörspiel übertragen. In der Lounge Area kann man dem Treiben der Party entkommen und (diese) Kraft tanken, für die weiteren Tage Festival-Trubel.

© Inke Johannsen

Anais Clerc

Anaïs Clerc (*in Fribourg, Schweiz). Viele Kühe, zu wenig von allem. Studiumsversuche auf Lehramt und in Sozialpädagogik / alle wollen etwas werden, Anaïs fand es anstrengend, zu sein.
Sie fand durch Jugendprojekte und einen pädagogischen Zugang zum Theater und studierte Szenisches Schreiben an der Universität der Künste in Berlin. Seit drei Jahren sind ihre Texte u. a. am Volkstheater München, am Salzburger Landestheater, am Schauspiel Essen und an den Autor:innentheatertagen am Deutschen Theater Berlin zu sehen.
In der Spielzeit 2022/23 absolvierte sie das Förderprogramm Dramenprozessor des Theater Winkelwiese in Zürich und gewann zeitgleich mit der Stückentwicklung befristet/ für immer, eine Arbeit mit dem Regisseur Tanju Girisken, den Publikumspreis des Körber Festival Junge Regie. 2023/24 war sie Hausautorin an den Bühnen Bern und wurde mit brennendes haus für den Autor*innenpreis des Heidelberger Stückemarkts nominiert.
Kurz danach gewinnt der Text in der Inszenierung von Amelie von Godin, mit der sie eine längere Zusammenarbeit verbindet, den Nachwuchswettbewerb des Theater Drachengasse in Wien.
In ihren Texten setzt sie sich mit sozialer Ungerechtigkeit, politischen Fragen und konkreten Figuren, die oft auf wahren Begegnungen basieren, auseinander. Anaïs arbeitet gerne in Stückentwicklungen und gemeinsamen Prozessen.
Sie ist ausserdem für Kinder - und Jugendtheater als Jurorin tätig und gibt regelmässig
Schreibworkshops an Schulen. Seit April 2025 ist sie Inhaberin des Schweizer Literaturstipendium der Lydia-Eymann-Stiftung und arbeitet an ihrem ersten Roman SCHLUCHTEN (AT). Anaïs lebt in Berlin und in der Schweiz.

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© Jerry Joe

Lamin Leroy Gibba

Lamin Leroy Gibba, geboren 1994, ist Schauspieler, Autor und Produzent. Er studierte Schauspiel, Theater und Film an der New School Universität in New York. Engagements folgten u.a. am Classical Theater of Harlem, Performance Space New York, Theater Oberhausen, Kampnagel Hamburg, Ballhaus Naunynstraße sowie in Film- und Fernsehproduktionen.

Zu seinen Kurzfilmen gehören Fever Source, Cloud Zero und Hundefreund. Letzterer gewann den ersten Preis beim Internationalen Kurzfilmfestival Berlin, wurde für den deutschen Kurzfilmpreis nominiert und unter anderem beim Tribeca Film Festival gezeigt. Lamin Leroy Gibba wurde 2023 in der europäischen "Forbes" in der 30-under-30-Liste / Kategorie Entertainment genannt. Seine Serie Schwarze Früchte, in der er Drehbuchautor, Showrunner und Hauptdarsteller war, wurde 2024 in der ARD Mediathek ausgestrahlt.

Sein Theaterstück Doppeltreppe zum Wald gewann beim 40. Heidelberger Stückemarkt 2023 den Publikums- sowie den SWR2- Hörspielpreis.

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© Florian Thoss 2023

Leo Lorena Wyss

Leo Lorena Wyss studiert nach einem Studium der Kulturwissenschaften und ästhetischen Praxis in Hildesheim und Madrid derzeit Sprachkunst an der Universität für angewandte Kunst in Wien. Als Autor*in arbeitet Wyss in unterschiedlichen Kollektiven und ist neben dem Schreiben in der politischen Bildungsarbeit tätig.

Wyss' Arbeiten erhielten diverse Preise und Stipendien. Zuletzt erhielt Leo Lorena Wyss für das Stück Blaupause den Autor*innenpreis des 40. Heidelberger Stückemarkts sowie den Retzhofer Dramapreis 2023 und den Nestroy in der Kategorie „Bester Nachwuchs“ für das Stück Muttertier. In der Spielzeit 2024/2025 ist Wyss Hausautor*in am Nationaltheater Mannheim.

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