n den letzten Jahren hat Jürgen Gosch seine Schauspieler in immer neue elementare Spiele verwickelt und fast aggressiv in die Nähe der Performance Art getrieben. Jetzt stellt er demonstrativ einen Samowar in den Mittelpunkt seines „Onkel Wanja“ – und erzählt das Stück ganz psychologisch-realistisch. Ein Anfall von einfühlender Tschechow-Nostalgie? Keineswegs. In dem mit frischer Erde bestrichenen Bühnenkasten von Johannes Schütz, der das Geschehen abstrakt grundiert, blicken Regisseur und Ensemble hellwach und neugierig auf Figuren und Situationen, die sie so ernst nehmen wie sich selbst. „Wenn man kein wirkliches Leben hat, dann nimmt man eben die Illusion“: nach diesem Motto lebt Wanjas Familie samt Sommergästen. Jens Harzers Arzt trinkt und tänzelt über seine Trübsal hinweg, während Ulrich Matthes’ Wanja, dessen depressive Hellsichtigkeit den Abend begleitet wie ein dunkler Bass, am Ende echte Tränen vergießt. Auch die desillusionierte Professorengattin Elena (Constanze Becker), in die alle vernarrt sind, und die ungeliebte Zweckoptimistin Sonja (Meike Droste) bilden ein komplementäres Paar, in dem immer eine das hat, was der anderen zu ihrem Glück fehlt. Neben aller spielerischen Intensität und Komik wird so ein geheimer Bauplan des Menschseins sichtbar. Dazu passt auch die symmetrische Architektur des Abends: Das erste Bild fädelt sich ohne Hast in das Landleben hinein, das vierte fadet langsam aus, dazwischen offene Sinnfragen, hundstraurig verfehlte Lieben und komische Familienkatastrophen. In dreieinhalb Stunden das ganze Leben.
(Ankündigung Deutsches Theater)
Ausgezeichnet als beste Inszenierung des Jahres 2008