»DER URSCHLUND IST ÜBERWUNDEN NICHT.« – Vorwort aus unserer Dramatischen Rundschau 04

»DER URSCHLUND IST ÜBERWUNDEN NICHT.« – Vorwort aus unserer Dramatischen Rundschau 04

Wann ging dem Theater eigentlich der Rausch verloren? Einst tobten die Bakchen durchs Kithairon Gebirge, heute toben Fußballfans durch Frankfurt. Im Vorwort zu unserer neuen Dramatischen Rundschau proklamiert Friederike Emmerling das "berauschende Theater". Nur so überwinden wir den Urschlund und besinnen uns auf die Einzigartigkeit des Theaters. Es wird Zeit für Lust, Ekstase und Kontrollverlust auf den Brettern, die die Welt bedeuten. 

 

Fünfzig ist das neue Hundert, raunt es durch halbvolle Theaterräume.
Wo sind sie denn alle?
Die Theaterjunkies und Kulturverrückten, die Schauspielfans und Dramaqueens, die Coronaüberdrüssigen und Lebenshungrigen, wo sind sie geblieben?
Frühsommer 2022, Corona schien vorbei, und trotzdem blieben die Theater leer. Coronabeschränkungen wurden fast bedauernd wieder aufgehoben. Nicht die Fülle wurde gestaltet, sondern die Leere verwaltet.
Zugegeben, die Bedingungen für einen Neustart hätten besser sein können. Corona lauert noch immer, und Russland führt Krieg. Das Gas wird knapp, die Preise steigen und mit ihnen die Temperaturen. Die Welt dreht durch.
»der urschlund ist überwunden nicht«, so heißt es in der hildensaga von Ferdinand Schmalz. Und was sich bei ihm auf den ewigen Kreislauf aus Krieg und Gewalt bei den Nibelungen bezieht, könnte zeitloser nicht sein. Fast scheint es, als stecke auch unsere Zukunft im Urschlund fest. Welche Rolle kommt da noch dem Theater zu? In Zeiten von Netflix, TikTok, NFTs, Metaverse wirkt es fast wie aus der Zeit gefallen, ein behäbiger alter Dampfer mit Retrocharme. Ist Theater auf einmal ein Unort geworden, ein vom Urschlund verschluckter? Dabei böte es sich doch an für geistigen Gruppeneskapismus mit dramatischem Unterhaltungswert, eine Brücke über den Schlund, ein Licht am Ende des Tunnels, ein Hoffen, Glauben, ein Wollen wider die Realität? Wo sind all die Menschen hin, wo sind sie geblieben? Aus einem Publikum, mit dem zu rechnen war, ist ein unberechenbares geworden. Kaum noch Abonnenten. Das ist bitter. Denn die Menschen sind ja nicht grundsätzlich weg. Sie gehen einfach nur nicht ins Theater. Dafür fluten sie die Straßen, wenn die Frankfurter Eintracht den Europapokal nach Hause bringt.
Bei der Verleihung des Gertrud-Eysoldt-Rings 2022 an Lina Beckmann forderte der Theatermacher Michael Quast zu folgendem Gedankenspiel auf: Was wäre, fragte er, wenn der Frankfurter Jubelsturm nicht durch den Fußball, sondern durch das Theater ausgelöst worden wäre? Tränenüberströmte Gesichter, die gemeinsam Eintracht rufen; Bengalos als Lichter in der Nacht, weil nichts so glücklich macht – wie das Theater? Hunderttausende, die jubeln, weil die Zukunft ihrer Theater sichergestellt ist?
Das hört sich unvorstellbar an.
Welche Form des Theaters könnte in der Lage sein, derart zu begeistern?
Es müsste ein berauschendes Theater sein, ein Theater, das niemanden auslässt, weil jede Inszenierung ein Fest ist − selbst die traurigste – und weil es nicht nur zum Zuschauen einlädt, sondern auch zum Reden, Trinken, Ausruhen, Streiten, Lieben, Leben.
Wann ging dem Theater eigentlich der Rausch verloren? Einst tobten die Bakchen durchs Kithairon Gebirge, heute toben Fußballfans durch Frankfurt. Geben wir das Dionysische nicht verloren. Es ist ja da. Brodelt rauschend unter der Oberfläche auf der Suche nach einer Öffnung, einem Spalt.
Offenbarung, Stimulierung, Kontrollverlust und Hingabe, Explosion der Sinne, Intensität und elektrisierende, überschwappende, gierige, unkontrollierbare, betörende Sprache – all das und noch vieles mehr wird das berauschende Theater brauchen. Dazu weit offene Türen und Fenster, durchlässig und offenporig, um anzulocken und einzuladen in das, was Theater sein kann, wenn es einen brennenden Kern, ein Kraftfeld, in sich lodern lässt. Kein alter Dampfer, sondern pure Energie. Ein Theater, das alle und alles aufladen kann mit Freude und Lust, mit Durst nach mehr, nach Schmerz und Gefühl und Katharsis. Schon in diesem Buch rasen die königlichen Hilden, während Politiker ekstatische Endlosschleifen drehen, Frauen stampfen klack klack bämm bämm wie Göttinnen durch die Nacht und rebellieren mit den Tieren im Wald, ein »Theater der Freundschaft« wird manifestiert, und Fußballer erwarten uns mit überraschender Zärtlichkeit. Schwer vorstellbar, dass einem solchen Lodern der Urschlund gefährlich werden kann. Vielleicht sogar im Gegenteil. Der Urschlund ist ja nicht nur schwarzes Loch, sondern auch lichte Öffnung – ins Unvorstellbare. Wenn wir ihn schon nicht überwinden, nutzen wir ihn doch einfach, um berauschendes Theater zu entfesseln. Wir brauchen es mehr denn je.

Friederike Emmerling

 

Die Dramatische Rundschau 04 ist bei S. FISCHER erschienen und im Buchhandel erhältlich.

Dramatische Rundschau 04: Ewe Benbenek: Tragödienbastard / Ruth Johanna Benrath: im wald (da sind) / Wolfram Lotz: Die Politiker / Leo Meier: zwei herren von real madrid / Milena Michalek: Das hier / Ferdinand Schmalz: hildensaga 


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