Milena Michalek

»Das Theater der Zukunft ist: extrem aus der Übung in allem.« – Vorwort von Milena Michalek aus unserer neuen Dramatischen Rundschau 04

»Das Theater der Zukunft ist: extrem aus der Übung in allem.« – Vorwort von Milena Michalek aus unserer neuen Dramatischen Rundschau 04

Das Theater der Zukunft ist…schillernd, fragend, nah, rührend, distanziert, fließend, transparent, vertraut und doch ganz neu? Unsere Autorin Milena Michalek beschreibt ihr Theater der Zukunft. Als Goodie zum Erscheinen unserer Dramatischen Rundschau 05 gibt es hier vorab ihr Vorwort »1 Minute zur Zukunft des Theaters«. In der aktuellen Ausgabe werden Stücke von Emre Akal, Paul Grellong, Caren Jeß, Svealena Kutschke, David Lindemann und Kathrin Röggla abgedruckt. Johanna Benz hat wundervolle Illustrationen zu den einzelnen Stücke gezeichnet.

 

1 Minute zur Zukunfts des Theaters

 

(Das Brutalste an der Aufgabenstellung ist, dass ich mich nicht hineinschreiben kann in eine wasimmer: Wut, Liebe, Verwegenheit. Muss kurzhalten. Auf den Punkt bringen. Ein Slogan! Ein Slogan! Das wär’s – Vielleicht … )

 

Das Theater der Zukunft ist: extrem aus der Übung in allem.
Der Spielplan hat das Gedenkjahr einer wichtigen Persönlichkeit genau um einen Tag verpasst. Das KBB hat sich bei den Gagen verrechnet: Die Putzkraft bekommt jetzt doppelt so viel wie das ganze Ensemble zusammen. Die Putzkraft hat vergessen, dass Geld tabu ist, und hat es betrunken herumposaunt. Das Ensemble weiß nicht mehr, wie Empörung geht, und beschließt, erst mal zu duschen. Die Regie ist zur falschen Adresse gefahren und sitzt jetzt in einem Park und sagt: Ich weiß nichts, ich hab alles außer einem Plan und Zigaretten. Die Öffentlichkeitsabteilung hat die Stadt mit Ankündigungen einer Inszenierung vom letzten Jahr plakatiert. Die Dramaturgie hat im Programmheft Mensch und Machtmechanismus gegendert, daneben hat sie aus Versehen Nacktfotos von sich gedruckt, darunter steht als Bildbeschreibung: Goethe in seinem Schreibzimmer beim Schreiben des Weltklassikers Die Räuber. Die Autorschaft hat sich mit Jack Nicholson verwechselt, das Stück besteht aus 4561mal dem Satz: »Das kann man so nicht sagen.« Die Kritik bemerkt in der Ankündigung lobend die Virtuosität der Hautfarben des Ensembles. Die Bühnenbildner*innen haben das Bühnenbild im Schlafzimmer vergessen, es steht jetzt ihr Bett auf der Bühne.
Der Tag der Generalprobe ist gekommen. Die Schauspielenden spucken sich gegenseitig unter die Achseln. Sie haben keine Tampons dabei. Das Licht im Saal geht an, es geht los, mit dem 5. Akt. Niemand hustet. Ein Spieler arbeitet sich knapp an seinem Schmerzbereich vorbei. Hysterisches Lachen im Publikum. Eine Kita stürmt die Bühne. Sie dachten, hier sei ihre Notbetreuung. Die Technik drückt den falschen Knopf, das Dach des Theaters öffnet sich, ein Hubschrauber fliegt darüber und streut die Flugblätter einer Anti-Abschiebungsdemo in den Saal. Der Soundtrack der nahen Loveparade übertönt den Abschlussmonolog des Chores. Eine suizidale Rentnerin springt aus dem fünften Stock im Nachbarshaus direkt durch das offene Dach des Theaters der Zukunft und landet auf dem Bett. Die Flugblätter machen einen Purple Rain.
Das Theater der Zukunft ist unprofessionell, es hat verlernt, wie man Dinge macht. Das Theater der Zukunft kann sich nicht mehr weißmachen – das Theater der Zukunft kann sich nicht mehr weismachen, etwas zu wissen. Es bleibt ihm nichts anderes übrig, als sich zu öffnen. Das Theater der Zukunft ist offen.
Milena Michalek

 

(Dieser Text entstand für den 1. Digitalen Fischer Salon 2021. Die Aufgabenstellung für alle anwesenden Dramatikerinnen und Dramatiker lautete: 1 Minute zur Zukunft des Theaters.)


zurück zum Journal