Lisa Sommerfeldt

»Do you like to talk to Holocaust survivors?« Lisa Sommerfeldt und das MÄDCHEN MIT DER HUTSCHACHTEL

»Do you like to talk to Holocaust survivors?« Lisa Sommerfeldt und das MÄDCHEN MIT DER HUTSCHACHTEL(c) Familie Löb/Leuchter

In einem archivierten Propagandafilm wurde die Deportation der jüdischen Bevölkerung von Bruchsal am 22. Oktober 1940 festgehalten. Ein junges Mädchen mit rundem Koffer ist zu sehen. Lisa Sommerfeldt hat sich auf die Suche nach ihr gemacht. Und sie gefunden. Ihr Name ist Edith Leuchter, geborene Löb, sie lebt mit ihrer Familie in den USA und ist mittlerweile über 90 Jahre alt. Basierend auf Interviews, Tagebüchern, Gerichtsakten und Korrespondenzen schrieb Lisa Sommerfeldt einen zarten, einen brutalen, einen poetischen, einen entsetzlich berührenden Theatertext - MÄDCHEN MIT HUTSCHACHTEL -über die Geschichte dieses Mädchens und seiner Familie. Friederike Emmerling stellt Autorin und Theaterstück vor.

 

 

 

 

 

 

Chor:
Der Mond über Manhattan. Der Mond über Theresienstadt. Der Mond
über Frankfurt. Der Mond über Auschwitz. Do you like to talk to
Holocaust survivors?

 

Es beginnt schleichend. Vater, Mutter, zwei Kinder, ein gut laufendes Geschäft in Bruchsal. Jüdische Menschen werden zunehmend stigmatisiert. Viele verlassen Deutschland. Auch der Vater wandert in die USA aus. Er will die Familie schnell nachholen. Kurz darauf muss die Mutter das Geschäft verkaufen. Mit den Kindern zieht sie zur Großmutter. Es ist eng, doch die Ausreise scheint zum Greifen nah. Die Einwanderungspapiere liegen vor. Nur noch die Pässe fehlen. Zu spät. Am 22. Oktober 1940 werden alle in Bruchsal verbliebenen Jüdinnen und Juden verhaftet und in das Internierungslager Gurs gebracht. Einzig Edith Löb überlebt die Shoah mit Hilfe des OSE (Œuvre de secours aux enfants). Ihre Großmutter stirbt in Frankreich. Ihre Mutter und ihr Bruder kommen in Auschwitz ums Leben.

 


Nach dem Krieg geht Edith Löb in die USA. Die Traumata der vergangenen Jahre sind nur schwer mit den Banalitäten eines unbeschwerten Alltags in Verbindung zu bringen. Alles wirkt viel zu weit weg.

 


Wir geben Vermisstenanzeigen auf und suchen über das Rote Kreuz. Ich
erfahre: Meine Mutter und mein Bruder sind tot. Der Tod ist abstrakt. Der
Tod besteht aus Buchstaben auf einem Dokument und aus ein paar
Worten meines Vaters. Der Tod besteht aus einer Umarmung meiner
Tante und dem Schweigen meines Vaters. Der Tod bedeutet, dass ich
nie mehr jemanden mit „Mama“ ansprechen werde. Der Tod bedeutet,
dass ich jetzt Halbwaise bin. Der Tod bedeutet auch, dass ich jetzt
Einzelkind bin. Der Tod bedeutet, dass mein Vater sich viel zu schnell
eine neue Frau sucht. Der Tod ist weit weg, auf einem anderen
Kontinent. Der Tod ist weit weg und wohnt in mir.

 


Lange Jahre kämpfen Edith und ihr Vater um Wiedergutmachung. Edith Leuchter, geborene Löb, heiratet und bekommt Kinder. Ihr Mann hat − wie sie − die Shoah überlebt.


Nachts wachen sie von ihren eigenen Schreien auf. Sie haben alles verloren.
Aber sie haben sich für das Leben entschieden.

 


Aus der Zeit zwischen 1940 und 1944 existieren Postkarten und Briefe, deren heiter zuversichtlicher Ton zu Tränen rührt. Bis zum Ende sind alle Familienmitglieder darum bemüht, sich gegenseitig Zuversicht zu vermitteln. Die Knappheit der Zeilen und das Toben der Angst im Ungeschriebenen lässt das Herz beim Lesen und Hören zittern. Mit großer Behutsamkeit verwebt Lisa Sommerfeldt all diese Stimmen zu einem eindringlichen, poetischen Erinnerungsdokument, das aus der Vergangenheit bis in die Gegenwart reicht.

 


(Originaldokument, 8.9.42 FFM) Liebe Tante Regine und lieber Onkel Fritz. Ich habe euern Brief erhalten und habe mich sehr damit gefreut. Meinem Vater habe ich schon lange geschrieben. Bald können wir uns auch nicht mehr schreiben, da wir wahrscheinlich in aller Kürze auch verreisen müssen. Für heute will ich schließen. Herzliche Grüße und 1000 Küsse, Heinz.

 


„Basierend auf Interviews und Gesprächen mit Zeitzeugen sowie auf der Arbeit in Archiven ist der Autorin ein lyrischer, emotionaler Text geglückt, der die Erfahrung des Holocaust berührend zeigt… Der Spagat zwischen Dokumentartheater und der fesselnden Geschichte der Familie Leuchter gelingt der Autorin virtuos.“ (Elisabeth Maier, Theater der Zeit)

 


„Allein schon die Fakten, die Sommerfeldt verarbeitet, haben hohes emotionales Potenzial. Ästhetisch zieht sie ganz feine konzeptionelle Linien mit leitmotivischen Themen: Da spielt der Mond eine entscheidende Rolle, oder die in der Sonne glitzernden Gleise – ein starker Text.“ (Manfred Jahnke, Aalener Nachrichten)

 

„Mädchen mit Hutschachtel überzeugt als klar erzählte Zeitgeschichte und berührt und beklemmt mit einfachen Mitteln. Das Stück schafft Bilder und Szenen, die lange nachwirken.“ (Dagmar Oltersdorf, Schwäbische Post)

 


Wir freuen uns sehr, Lisa Sommerfeldt u.a. mit diesem Stück als neue Autorin im S. Fischer Theater Verlag begrüßen zu dürfen. Die Schauspielerin, Theater- und Hörspielautorin nähert sich ihren teils fiktiven, teils historischen Figuren mit großer Sensibilität und präziser poetischer Genauigkeit. Für ihre Werke wurde sie mehrfach ausgezeichnet, u.a. war sie 2017 Stipendiatin der Stiftung Rheinland-Pfalz für Kultur im Künstlerhaus Edenkoben, 2018/2019 Stipendiatin des 1:1 Mentoring der NRW Literaturbüros und 2019 des Künstlerhofes Schreyahn. 2020 erhielt sie ein Arbeitsstipendium des Landes NRW. 2021 war sie Stipendiatin der Villa Decius in Krakau und erhielt ein INITIAL Sonderstipendium der Akademie der Künste. 2022 Jahr erhielt sie ein Hörspiel-Stipendium der Film- und Medienstiftung NRW für „germania ♀, Gespenster der blutenden Frau“ (AT). In diesem Gegenentwurf zu Heiner Müller setzt sie sich mit der Frage auseinander, was mit der deutschen Geschichte passiert wäre, wenn auch die Frauen gehört worden wären.

 

MÄDCHEN MIT HUTSCHACHTEL
Nach der Geschichte der Edith Löb.*
Eine Auftragsarbeit für die Badische Landesbühne Bruchsal
3 D, 1 H
UA: 13.10.2022 / Badische Landesbühne Bruchsal
Regie: Petra Jenni

 

*Der Text beruht auf Originaldokumenten im Besitz der Familie Löb/Leuchter. Weitere Quellen: Dokumente aus dem Landesarchiv Karlsruhe und dem Staatsarchiv Ludwigsburg. Die Datenbank von Yad Vashem. Interviews mit Edith und Kurt Leuchter und den Töchtern Julie Thum und Deborah Stueber. Vielen Dank an: Edith Leuchter, Kurt Leuchter, Deborah Stueber, Julie Thum, Petra Jenni, Ronit Shimoni, Marianne Hilgers, Rolf Schmitt und Florian Jung


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