Joshua Groß

Back to the Future, Oida: SCHWERENOT (Hexenbesen Drive-by Squad) von Joshua Groß

Der preisgekrönte Romanautor Joshua Groß dreht in seinem Debütstück SCHWERENOT (Hexenbesen Drive-by Squad) Gegenwart und Mittelalter gehörig durch den Fleischwolf. In einer ausladenden, reflektierten und witzigen Sprache, lässt er den legendären Raubritter Eppelein darüber nachdenken, welche Akteur:innen „Geschichte machen“ und wer unser Denken von Besitz, Macht und Arbeit prägt. Oliver Franke begibt sich ins chaotische Mittelalter.

 


Zeitsprung ins Spätmittelalter: Das Rittertum ist nicht mehr so sexy, wie es in den vergangenen Jahrhunderten gewesen ist. Ritter Eppelein von Gailingen (1320-1381) ist eine schillernde Figur, wie sie nur tiefgreifende Epochenumbrüche hervorbringen können. Städte werden Handelszentren – insbesondere Nürnberg gilt als Knotenpunkt der nordalpinen Handelswege. Die Edelleute nutzen die Orientierungslosigkeit und die Zukunftsangst der Nichtbesitzenden aus, um den Klassenkampf weiterzuführen. Pest, Bauernaufstände (gleich drei an der Zahl), Naturkatastrophen und Hungersnöte lassen die Bevölkerung um ein Drittel schrumpfen – Landflucht und zunehmende gesellschaftliche Unruhe sind die Folge. Selbst die Fundamente der römisch-katholischen Kirche geraten ins Wanken: 1378, Eppelein muss es noch selbst miterlebt und sich darüber köstlich amüsiert haben, kommt es zum Abendländischen Schisma – einen Konflikt innerhalb der Kirche, der zwischenzeitlich zwei konkurrierende Päpste zur Folge hat. Die kirchliche Einheit droht zu zersplittern – ein Teaser für die Dinge, die da noch kommen. Nichts ist gewiss in einer Zeit, in der es zwei Stellvertreter Christi auf Erden gibt und wenn die höchste Bischofsriege um das Petrusamt kämpft.

 

»Sie erkennen nicht, verstehen nichts, / sie wandeln umher in Finsternis. Alle Grundfesten der Erde wanken.« Psalm 82,5

 

Mittendrin ist Ritter Eppelein von Gailingen. Der berühmt berüchtigte Raubritter – ein mittelfränkischer Robin Hood. Über die Jahrhunderte wird er zum Helden der Armen und Bedürftigen stilisiert und steht sich doch eigentlich selbst am nächsten. Abhängig vom Burggrafen von Hohenlohe, war das verarmte Adelsgeschlecht Gailingen jahrzehntelang von Lehen des Herrschers abhängig. Beraubt von Besitz und Ansehen und verhaftet in Vorstellungen von sozialem Aufstieg beginnt Eppelein in den 1360ern seine Überfälle auf Handelsfrachten. Er will mehr sein als Systemverschleiß. Sein Mythos wird schließlich durch seine spektakuläre Flucht mit seinem Pferd über die Mauer des Nürnberger Burggrabens begründet.

 

Bevor er mit seinen Kumpanen 1381 hingerichtet wird, begeht Ritter Eppelein zahlreiche Raubzüge. In der Romantik wird er später als Opfer seiner Umstände verklärt. Gedichte und Volkslieder werden gedichtet:

 

»Es geht kein Reitersmann verlor'n / wenn unter ihm ein Rößlein schnaubt / und er noch an sich selber glaubt.« (Ernst Weber)

 

Männliche Hybris in a Nutshell. Doch, was Eppelein so interessant macht, ist sein Herausfallen aus der Zeit. Ähnlich wie die fiktive Figur Don Quijote lebt er einem (männlichen) Ideal nach, das in dieser Form gar nicht mehr existiert. Ein Gestrandeter seiner Zeit – ob ihm das turbulente 21. Jahrhundert gefallen hätte? Völlig fremd wären ihm die 2010er Jahre mit all ihren Katastrophen, Krisen und gesellschaftlichen Spaltungen möglicherweise auch nicht vorgekommen. Lassen wir doch einfach Eppelein selbst zu Wort kommen:

 

»Wir sind Kaulquappen, die zwischen Besitz und Nichtbesitz hin und her schwimmen. Ich kann das behaupten, denn ich hatte Besitz, ich hatte Nichtbesitz, ich besaß, ich begünstigte, ich wurde entgünstigt, ich raubte. Ich raubte, Oida. Wir kollidieren entweder am Besitz oder wir kollidieren am Nichtbesitz. Sonst kollidieren wir nicht. Wir sind dermaßen verkommen, es ist zum Schreien.«

 

Joshua Groß wählt das ausgehende 14. Jahrhundert als Handlungszeit seines Debütstücks, wirft Gegenwart und Mittelalter zusammen in den Hexenkessel und rührt kräftig im saftig blubbernden Geschichtssud aus Legenden, Esoterik Kapitalismuskritik, linker Theorie und präziser Gegenwartsbeobachtung.

 

»Das sind Gulden Gulden Gulden /
wenn ihr Kröten mich catchen wollt/
müsst ihr euch gedulden
Oida Oida«

 

Knechte, Ritter und Adeligen sprechen einen Mischmasch aus Frühneuhochdeutsch und Influencer-Rethorik. Neologismen und altfränkischer Sprachduktus vermengen sich zu einem Bühnensprech mit einem ganz eigenen Drive. Der lotternde, zechende, herumhurende Eppelein begegnet auf seinen Eskapaden den drei Hexen Teremin, Lola und Hanne, die ihm nicht nur zur spektakulären Flucht aus der Nürnberger Burganlage verhelfen. Weil es für selbstermächtigte Frauen keinen Platz im Mittelalter gibt und sie nicht ausgerottet werden wollen, leben sie in ihrer unsichtbaren Kommune. Vertrocknet an der eigenen Zukunftslosigkeit, findet Eppelein durch die Hexen einen neuen Lebenssinn – politisiert und radikalisiert sich. Die vier gründen den Hexenbesen Drive-by Squad, eine Anarcho-Guerilla-Gruppe, die sich drauf und dran macht, die Territorialherrschaft der Adelsstände in ihren Grundfesten zu erschüttern. Eat the rich durch Bitchcraft! Verhext das System. Damit ist SCHWERENOT (Hexenbesen Drive-by Squad) das Stück zur Stunde. Ein hochaktueller Agitprop-Ritt durchs mittelalterliche Ständesystem, das bis in die Gegenwart strahlt. Wie können die Welt und Besitzstrukturen neu erzählt werden? Wie können wir aus den Fehlern der Menschheitsgeschichte lernen und uns in neuen Formen des solidarischen Zusammenlebens organisieren? Um mit Joshua Groß abzuschließen:

 

»Es wird rumgekaut auf Konzepten wie Zukunft, Arbeit, Solidarität, Verfolgung und New Economy. Schwerenot kommt über die Menschen – dagegen stehen verschiedene Versuche, in den Himmel zu schweben, das Ambiente zu tunen, organisatorische Gegenmanöver auszuhecken. Frage: Durch welchen Pitch kommt das Neue in die Welt? Andere Frage: Wodurch wird eine Legacy gebildet? Oder: Wie könnte es uns trotz allem gelingen, die Zukunft offener zu gestalten?«

 

Schwerenot
(Hexenbesen Drive-By Squad)
ad libitum
frei zur UA

 

Joshua Groß, 1989 in Grünsberg geboren, studierte Politikwissenschaft, Ökonomie und Ethik der Textkulturen. Er wurde mehrfach ausgezeichnet, u. a. mit dem Anna Seghers-Preis 2019, dem Literaturpreis der A und A Kulturstiftung 2021 sowie mit einem Aufenthaltsstipendium des Bundes für das Deutsche Studienzentrum Venedig 2023. Bei Matthes & Seitz Berlin erschienen bisher Flexen in Miami, Entkommen und Prana Extrem. Prana Extrem war für den Preis der Leipziger Buchmesse 2023 in der Kategorie Belletristik nominiert. Sein Science-Fiction-Märchen Kiwano Tiger wurde 2023 bei starfruit publications veröffentlicht.


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