Ariel Dorfman

Der Leser
Stück in 2 Akten
(Reader)
Deutsch von Uwe B. Carstensen
2 D, 4 H, Verwandlungsdek
UA: 15.08.1995 · Traverse Theatre im Rahmen des Edinburgh Festivals · Regie: Ian Brown
DSE: 15.09.1996 · Schauspiel Bonn · Regie: Frank Hoffmann
Melodien erfüllen den Raum, alle umarmen sich sanft: Die "Minute des Lächelns" versetzt jeden in einen Zustand der Harmonie, ganz gleich, welch scharfe Konfrontation gerade läuft. Es ist eine aufoktroyierte Harmonie. Sie, wie alles andere im Leben, wird von der Moral Resource Company gesteuert. Ein Regime in der nahen Zukunft, errichtet auf strengen moralischen Prinzipien.

Daniel ist ihr Mitarbeiter. Als Zensor entscheidet er über das Wohl und Wehe von literarischen Werken. Sein derzeitiger Fall erzählt über eine ökofaschistische Diktatur, die unverkennbar mit dem moralischen Regime der Realität gleichgesetzt werden kann. Mehr noch: In der Figur »Don Alfonso' erkennt sich Daniel Lucas selbst wieder. Und auch andere Menschen aus seiner Umgebung tauchen auf: sein Sohn, seine Sekretärin und Geliebte, seine tote Frau. Der fiktive Sohn stellt Fragen, insbesondere über das Verschwinden seiner Mutter, die in einer Umerziehungsanstalt gestorben ist. Die Ebenen vermischen sich zusehends.
Daniel sucht den Autor des Werkes auf, um herauszufinden, woher dieser seine Informationen hat. Paralysiert von dem Ineinandergreifen von Literatur und Realität fälscht er schließlich die Unterschrift seines Sohnes, wie er meint: um ihn zu retten. Er begeht den gleichen Verrat an ihm wie zuvor an seiner Frau - nur, um dann feststellen zu müssen, dass das Werk eigens geschrieben wurde, um eine Probe für seine Loyalität zu erhalten.

Das Vexierspiel aus Realität und Fiktion wird von Ariel Dorfman konsequent durchgeführt: In Parallelszenen wird das, wofür die realen Figuren keine Worte haben, dokumentiert: Folter und Unterdrückung. Ein Psychogramm, ein Psychothriller über den autoritären Charakter.