Witold Gombrowicz

Geschichte
Fragment
(Historia)
Deutsch von François Bondy / Constantin Jelenski
7 D, 18 H, (Doppelbesetzungen möglich), 1 Dek
UA: 05.04.1977 · Bayerisches Staatsschauspiel (Residenztheater), München · Regie: Andras Fricsay
Achtzehn zusammenhängende Fragmente geben blitzlichtartig Blicke frei auf ein Individuum, das ohnmächtig vor der Geschichte steht, ohne seine Mitverantwortung leugnen zu wollen. Achtzehn Angstvisionen: Sie beginnen im privaten Umfeld und enden in der großen und grausamen Politik:
Witold geht barfüßig, eigentlich ein kleines Detail, aber für seine Familie ist es Ausdruck von Wahnsinn und Rebellion. Für sie ist Witold ein subversives Element:
Vater und Mutter, schon im Privatem Angehörige einer repressiven Institution, verwandeln sich in den alptraumhaften Sequenzen zur Prüfungskommission der Schule, später in ein Familiengericht. Die Kindheit ist nichts weiter als eine Phase, in der man sich formen lassen muss hin zur entindividualisierten Norm. Witold bleibt barfüßig, er bleibt Nonkonformist. Man bestraft ihn mit dem Schlimmsten, was er sich vorstellen kann: Man entzieht ihm das Wort.
Witold hält dennoch eine Rede, und darin wandelt sich die private Vision hin zur Schreckensvision der grausamen Geschichte. Der Riss, der zwischen ihm und der Welt verläuft, ist auch bestimmt durch die Mitschuld, die er für das Attentat in Sarajewo empfindet. Sein Leiden ist das Gefühl der Ohnmacht und das Vorgefühl der kommenden Katastrophe. Alles wird enden. Er findet sich als barfüßiger Gesandter des Zaren wieder: vor dem deutschen Kaiser. Wird es zur allgemeinen Mobilmachung kommen? Der Kaiser jedenfalls sieht nicht ein, warum gerade er es sein muss, der diese Frage entscheiden soll.
Und selbst im Café unter Dichtern stolpert man über Witolds Barfüßigkeit. Man will ihn wieder nach Deutschland schicken: "Ach, wenn man entdecken könnte, dass es keinen Hitler gibt."