Theater

Helmut Krausser

Eyjafjallajökull-Tam-Tam

Da sitzen sie, kommen nicht weg und warten. Warten auf Informationen, auf das Ende des Stillstands, auf das Weiterleben – und sind gezwungen, es miteinander auszuhalten. Etwa der ehemalige Prenzlberger, der aus Kostengründen nach München gezogen ist und in dem Öko-Spießer-Pärchen auf seinen Lieblingsfeind trifft. Oder der todkranke Werbeclip-Regisseur, der der Mutter seines Kindes wiederbegegnet und sich nun einer Zukunft stellen muss, die er fast mehr fürchtet als den Tod. Oder der Autor, der an allem Mediokren verzweifelt und hier in der Hölle angekommen scheint. 55 Menschen warten in einer Abflughalle, gehen einander auf die Nerven und sich gegenseitig an den Kragen, entblößen Geheimnisse, Wunden und ganz banalen Kleingeist, reden über den Sinn des Seins, über Kunst und den Tod. Wie aufsteigendes Magma drohen Egoismen, Ressentiments und blinde Zerstörungswut die fragile Situation zu sprengen – denn niemand weiß, ob es wirklich stimmt, dass in Island ein Vulkan ausgebrochen ist und den europäischen Flugverkehr lahm legt. (Residenztheater München)

Eyjafjallajökull-Tam-Tam entstand als Auftragsarbeit für das Residenztheater und bot zu Beginn der Intendanz von Martin Kusej allen neuen Ensemble-Mitgliedern einen Auftritt. Der Text ist so konstruiert, daß Passagen weggelassen oder durch Film-Einspielungen ersetzt werden können. Nur einige Rollen sind obligatorisch, sie tragen den Kern der Handlung.

Auftragsarbeit für das Residenztheater München

UA: 9.10.2011 · Residenztheater München, Marstall · Regie: Robert Lehniger

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Helmut Krausser

Unser Lied

4 D, 10 H, Verwandlungsdek

Ganz aus der Sicht Hagens von Tronje perspektiviert Krausser seine Version des Nibelungenliedes. Der für seine unerschütterliche Treue zum Burgunderhof berühmte Gefolgsmann König Gunthers macht sich selbst zum Zentrum des Geschehens, indem er dem Hofsänger Volker von Alzey seine Version des Geschehens in die Feder diktiert.

Krausser erzählt die Geschichte als einen Entscheidungskampf zwischen dem Heidentum, als dessen Agent Hagen verdeckt agiert und dem christlichen Monotheismus, für den Gunther steht. Bevor die eigentliche Handlung des Nibelungenliedes beginnt, tötet Hagen seinen Vater, der ihn in Kindertagen fortgegeben hatte und schließt sich darauf dem christlichen König an. Er verpflichtet den Sänger Volker von Alzey als seinen Propagandisten. Im Dialog mit Volker differenziert Hagen zwischen der Wahrheit und der offiziellen, politisch nützlichen Version einer Begebenheit. Er zeigt sich so als machtbewusster Stratege. Als König Gunthers einflussreicher Ratgeber wird Hagen bei Krausser zum Drahtzieher der Ereignisse...
Der Nationalmythos Nibelungenlied ist über die Jahrhunderte von verschiedenen politischen Richtungen instrumentalisiert worden, zuletzt von den Nationalsozialisten. Seine wechselhafte Rezeptionsgeschichte unterliegt Kraussers Stück als Subtext. Dem Autor ist es gelungen, die Bildlichkeit des Originals sprachlich aufzugreifen und für seine Fassung eine eingängige und unprätentiöse Verssprache nachzudichten.

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Helmut Krausser

Roy Bar

6 D, 4 H, sieben angetrunkene Baritone (durch Puppen und Tonband ersetzbar), 1 Dek

Roy Bar, das stand einst in krummen roten Buchstaben an einer blauen Holztür mitten im Hafenviertel von Valletta. Und für Roy, einen wohlhabenden, saturierten und vom Leben, der Liebe und seinem Erfolg gelangweilten Pianisten, war das kein Zufall. Aus einer Laune heraus hat er die maltesische Rotlichtbar, die seinen Namen trug, einfach gekauft und sich dort, während seine Geliebte Alice im Hotel voller böser Vorahnungen wartete, betrunken. Seither hat er mit dem Trinken offenbar nie mehr aufgehört. Auch nicht auf den Konzertreisen, auf denen Alice ihn schon nicht mehr begleitete. Und auch nicht, als die Musik unter seinen Fingern zu zerrinnen beginnt, ebenso wie die Liebe seiner Gespielinnen.
Nun ist Roy zurück in der Roy Bar, seltsam aus der Zeit und ebenso aus all seinen Erinnerungen auf den harten Kneipenboden dieser dumpfigen Kaschemme gefallen. Und trifft dort die Menschen aus seiner Vergangenheit. Seine Geliebte Alice erscheint ihm, die sich seinetwegen das Leben nahm und der er nicht verzeihen kann. Und die Bardame, die er irgendwann engagierte, an die er sich aber nicht mehr richtig erinnern kann. Eine Schönheit im Abendkleid tritt auf, die ihn verließ, weil er nur trank, statt sein Talent an gemeinsame Kinder zu vererben. Ein Mann mit Henkerskapuze, eine weitere Ex-Geliebte, Kellner und Kellnerinnen, der frühere Barbesitzer und die Prostituierte Malicia, die er in jener ersten Nacht in der Roy Bar quasi zum Tode verurteilte – ein bizarrer Reigen von Toten und Untoten. Und alle haben sie Roys Lebensweg irgendwann mal gekreuzt. Nur wo? Und warum? Und wieso hat jeder von ihnen eine andere Wahrheit? In diesem skurrilen Szenario unter den ständigen Gesängen der sieben angetrunkenen Baritone findet Roy ganz langsam heraus, wie es wirklich war. Oder wie es vielleicht gewesen sein könnte?

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Helmut Krausser

Donnerstag - Die Fürsten

2 H, 1 Dek

Sie reden von sich wie zwei Fürsten, die beiden alten Männer auf dem Speicher eines Hochhauses, auf "Brettern, die nur Bretter bedeuten". Oder ist es gar kein Speicher? Ist der Ort der Handlung überhaupt von dieser Welt? Der eine hat Durst, der andere die Pfeife. Der Mann mit der Pfeife, den wir schon aus Mittwoch kennen, ist heimgekehrt, zu seinem Kumpel/Mitbewohner/ Konkurrenten. Zu dem mit der Augenklappe. Die beiden Figuren bleiben namenlos, immerhin werfen sie sich Stationen ihrer Schauspielkarrieren an den Kopf. Spezialisiert auf Fürstenrollen sind sie gewesen, anscheinend in Rente gegangen und nun heftig in der Sinnkrise. Sie streiten und beschimpfen und versöhnen sich, sie posieren voreinander, machen sich wichtig, debattieren über Triumphe und Skandale, berichten, wie sie von Schauspielern zu Fürsten wurden im Italien des 15.Jahrhunderts, wie sie bei Lucrezia Borgia im Sold standen, wie sie auf dem Monte Amiata auf Kosten von Menschenleben gewürfelt haben und bei Fürst Esterhazy Birnenschnaps tranken, als Haydn noch höchstselbst am Spinett saß. Selbst im KZ haben sie Dienst getan. Und es gibt Neuigkeiten: Die wiedergeborene Lucrezia soll unter dem Namen Lucy ein Stockwerk unter der "Fürstensuite" eine Kunstgalerie eröffnet haben. Sucht sie nach den letzten Zeugen von einst? Oder ist alles nur Zufall? Oder wäre es nicht überhaupt Zeit, endlich sinnvoll abzugehen? Bloß wie?

Donnerstag - Die Fürsten ist ein Parlando-Stück für zwei altgediente, immer noch entflammbare Rampensäue, irgendwo zwischen Metaphysik und Matthau/Lemmon. (Helmut Krausser)

Donnerstag - Die Fürsten, eine Auftragsarbeit für die Frankfurter Positionen 2003, wurde im Oktober 2003 im Rahmen einer szenischen Lesung präsentiert.

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Helmut Krausser

Diptychon

2 D, 1 H, 2 Dek

Mit seinem Diptychon legt Krausser eine zweiteilige Groteske vor, die die Klischees des expressionistischen Dramas noch einmal in einer erstickend intensiven Parodie übersteigert: die krankhafte Mutter-Sohn-Beziehung, der allmächtige, doch abwesende Vater, das unentrinnbar Alltägliche der kleinbürgerlichen Mördergrube.

Ebenso konsequent übersteigert wie die Handlung ist die Sprache, die Krausser seinen Figuren in den Mund legt: der eifersüchtigen Mutter, die ihre bösartigen Parolen wetzt wie ein Messer, dem winselnden Sohn, der "im Lauf der Jahre ein kleines Dramolett begonnen" hat, und der weltläufig-naiven Elke aus dem Supermarkt. Das böse Ende des Dienstags ist Programm, nur eine Episode in dem sich seriell abspulenden Familienalltag. Das Grauen bewegt sich zwischen der Routine, mit der eine ganze Reihe von "Annas" unters Beil der Mutter fallen, und der Wahllosigkeit, mit der noch "Elke" zu einer "Anna" und damit zum Opfer wird. Die Figuren fügen sich ihren Rollen im ödipalen Horrorschema, ohne sich auch nur einen Moment gegen ein "Schicksal" aufzulehnen, es sei denn, sie sehnen sich danach, dass der böse Spuk ein Ende haben möge: die Anna/Elke, der Mittwoch, das Serienmorden, das in seiner Monotonie die Schablonen der Pornographie kopiert.

Bestechend sind die Konsequenz und die sprachliche Präzision, mit denen Krausser seine drastische Ästhetik des Hässlichen verfolgt und den Zuschauer zum Voyeur des Monströsen macht.

Diptychon wurde auf dem Heidelberger Stückemarkt 1999 vorgestellt.

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Helmut Krausser

Afrika (Freitag)

4 D, 6 H, 1 Dek

"Die Gegenwart ist abgrundtief schlingensief, aber irgendwann erholt sie sich, vielleicht ..."
Aber vor dem heilsamen Aufatmen kommt der sarkastische Abgesang auf einen Kunstbetrieb, der sich in seinen egomanen Eitelkeiten ergeht. Und den liefert Helmut Krausser in diesem Stück um genialische Künstler und deren Verwerter - sprachgewaltig und pointiert.
Lucy, um die 50, macht den Anfang, indem sie die arrogante Abgehobenheit des Kunstbetriebs, Zuschauer inbegriffen, auf die Spitze treibt: Sie eröffnet eine neue Galerie, im fünften Stock ohne Lift, ein "Drecksloch". Konsequenterweise hängt sie die Bilder nicht mehr, sondern stellt sie auf den Boden. "Die Besucher können auf die Kunst herabsehen. Das wollten sie schon immermal." Zwei Künstler buhlen um ihre Gunst, nicht ohne Angriffslust, nicht ohne brutale Ausbeutung ihrer Liebessehnsucht. Zwei Kunstkritiker spielen das Spiel von "guter Kritiker - böser Kritiker". Jeder wird zur Ware und macht selbst die Kunst zur Ware. Das Ringen um die Kunst ist nichts weiter mehr als ein Manifestieren der Beliebigkeit. Die einzige, die da nicht mitmachen will, ist die Sprayerin Eva, die Neuentdeckung, deren Bilder kurzerhand okkupiert werden.
Und unter der ausgestellten Extravaganz laufen die wahren Dramen ab: der Existenzkampf, der nicht die Steigerung des eigenen Marktwerts meint, sondern ein Kampf um die Rechtfertigung des eigenen Daseins ist, als Künstler oder als Mensch. Ein Kampf um die Identität, um die Selbstbehauptung. Wie viel Mensch ist noch übrig bei all der Deformation zur Marke? (Über)Lebensphilosophien machen die Runde.
"Träume und Bedürfnisse. Dazwischen das Spielfeld."

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Helmut Krausser

Haltestelle. Geister.

7 D, 8 H, St, 1 Dek

An einer Bushaltestelle in tiefer Nacht. Eine Frau Ende vierzig in Hippieklamotten sitzt auf einer Bank. Ein Turnschuhtyp Mitte zwanzig setzt sich neben sie: "Warten Sie auf den Bus?" beginnt er treuherzig seine Anmache.

Aber die Lady wartet natürlich nicht auf den Bus, sondern seit Millionen von Jahren darauf, auf ihren Thron in einer fernen Galaxie zurückzukehren: Sie ist Gracia Gala, Prinzessin vom Planeten Tallulah! - sagt sie und wirft sich im Laufe der Nacht ab und zu eine von den Mickeys rein, die sie von Rico schnorrt.

Rico ist ein abgedrehter Dealer in Rapperkluft, der an der Haltestelle auf seine nächtliche Kundschaft wartet, so wie Eva, Pferdeschwanz und Conny, drei aufgetakelte Tussen, die anschaffen gehen.

Eine mysteriöse Nacht der zufälligen Begegnungen, bösen Geschichten menschlicher Abscheulichkeiten und der naiven Jagd nach Glücksmomenten beginnt. Und so geistern sie alle irgendwie durch die Stadt, mit Sehnsucht nach ein bisschen Sex (vielleicht mit der "Prinzessin" aus dem Internet), oder einfach auf der irrwitzigen Suche nach der eigenen Frau, die vor neunzehn Jahren verschwunden ist. Frust und Lust, und plötzlich Mord- und Totschlag. Und nach und nach tauchen die Toten an der Haltestelle. Geister. auf einmal wieder auf...

Und was wie ein Märchen begann, die Images der Soap-opera mit Leichtigkeit erspielt und parodistisches, trashiges Reality-Theater liefert - ist am Ende doch Science fiction?

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