Herr Meier in Heidelberg

Lasst die Sektkorken knallen! Letzten Samstag ging der Heidelberger Stückemarkt mit der alljährlichen Preisverleihung zu Ende: Wir gratulieren Leo Meier, der für sein Theaterstück "zwei herren von real madrid" sowohl den Publikumspreis als auch den SWR 2 Hörspielpreis gewann. Oliver Franke berichtet über die Zusammenarbeit mit Leo Meier und den diesjährigen Autor*innenwettbewerb.

 

„Das Drama verbindet!“, riefen wir emphatisch mit dem Mut der Verzweifelten am Anfang der Pandemie aus. Als wir uns alle erst einmal mit der neuen Situation zurechtfinden mussten. Als plötzlich nach und nach die Theater ihre Pforten schlossen, zahlreiche Premieren verschoben oder abgesagt wurden. Dennoch setzten wir unsere Suche nach neuen Stimmen in der Dramatik unentwegt fort. Der Tipp eines Dramaturgen machte uns auf Leo Meier aufmerksam – einem jungen Schauspieler, Jahrgang 1995. Er habe ein kurzes Stück – fast ein Dramolett – über zwei Fußballer geschrieben. Einen Text über Rollenzuschreibungen, die Angst vorm Sterben und über Profifußball. Und das alles so zart umrissen, so klug konstruiert, dass einem die Seiten nur so durch die Finger gleiten. Call me intrigued! Ich musste den Autor einfach kennenlernen.

Der Torwart hat Angst vor dem 11 Meter, der Lektor fürchtet sich davor, einem Autor nicht rechtzeitig zu überzeugen oder das Potenzial eines außergewöhnlichen Stücks nicht zu erkennen. Glücklicherweise verstanden wir uns in unserem ersten Videocall auf Anhieb: eine Liveschalte vom Mainzer Homer Office zum afrikanischen Kontinent, denn Leo war gerade in Namibia, um einen Spielfilm zu drehen. Ich merkte schnell, dass wir beide eine gesunde Haltung zum ganzen Kunst- und Kulturbetrieb haben: einen (selbst-)kritischen Blick auf das, was wir auf den Theaterbühnen vermissen und natürlich auch auf die Dramatik. Wir fanden schnell eine gemeinsame Arbeitsbasis – einer Zusammenarbeit stand also nichts entgegen.

 

Cut to: Heidelberg, Ende April 2022. Es ist ein nasser, diesiger Frühlingstag in der Neckarmetropole. Dichte Nebelschwaden verfangen sich in den Baumkronen, lassen den Königstuhl im grauen Nichts verschwinden. Die Toskana Deutschlands versinkt im Dauerregen. Eilig spute ich auf den gepflasterten Straßen zum Zwinger 3. Nehme nur im Augenwinkel barocke Prachtfassaden und von Blauregen überwucherte Dachvorsprünge wahr. Heidelberg bereitet sich auf den 1. Mai vor. Die Innenstadt ist umzäunt. Ein Stadtmarathon ist geplant. 13:30 Uhr soll der Autor*innenwettbewerb starten. Ich habe die Größe der Stadt unterschätzt. Mein Hotel liegt hinter den Hauptbahnhof, ca. 30 Gehminuten vom Stadtzentrum entfernt, direkt neben Mandy’s Fast Food Center und einem ganzen Areal an Autohäusern. Lektion für das nächste Mal gelernt. Eilig sprinte ich zur Tram. Spurte hurtig durch die Gassen. Endlich stehe ich vor dem mächtigen Kastanienbaum, der den Eingang zum Zwinger markiert. Was folgt ist ein großes Hallo. Endlich wieder Kolleg:innen IRL sehen. Kurz brauche ich eine Minute, um den seit zwei Jahren antrainierten Videocall-Modus abzuschütteln. Eine große Entdeckerlust macht sich in mir breit. Ich freue mich auf die Texte, die im Rahmen des Wettbewerbs gelesen werden, bin gespannt auf die Gespräche rund ums Festival. Dann sehe ich auch schon Leo mit blauem Basecap und lila-farbenem Festival-Jutebeutel im Hof stehen. Die letzten Monate haben wir uns ausschließlich digital gesehen. Erst jetzt merke ich, wie nervös ich bin. Leos Text wird den Wettbewerb einläuten. Um 13:30 Uhr geht es los. „zwei herren von real madrid“ vereint viele Genres in sich, wird aber oft – und das nicht zu Unrecht – als Komödie eingeordnet. Bekanntlich ist die Komödie das schwierigste Genre: zum Weinen bringt uns derzeit vieles – aber zum Lachen? Und dann auch noch vor einem kritischen Fachpublikum? Ich gebe ehrlich zu, dass ich etwas Respekt vor der Situation habe. Als wohlmeinender Lektor halte ich mich dezent zurück – schließlich ist der Autor bereits nervös genug.
Die Glocke läutet, es ist Zeit. Hastig werden die letzten Schulterklopfer verteilt und Toi-Toi-Tois gewispert. Ich nehme auf der Zuschauerbank Platz. Fünf Tische stehen bereits für die Lesung bereit. Dann betreten auch schon die Schauspieler:innen die Bühne. Die Lesungen werden aufgezeichnet und live gestreamt. Von der Regie ertönt es: „Wir gehen live in…10...09…08…“ Mir fällt ein, dass ich den Text noch nie laut gehört habe. „07…06…05…“ Was, wenn der Text nicht ankommt? Wenn die Pointen nicht zünden? Wenn nicht erkannt wird, was sich alles darin verbirgt? „04…03…02…01“ Das Saallicht geht aus. Die Lesung beginnt….

 

Das Stück entstand aus Leos Frustration heraus und war zunächst nicht für die Öffentlichkeit bestimmt. In seine Figuren legte er die Zärtlichkeit im Umgang miteinander, die er nach vier Jahren Schauspielausbildung in der Branche zutiefst vermisste. Ein aufrichtiges Stück von einem Schauspieler für Schauspielende ohne ätzenden, alles zersetzenden Zynismus. „Theater ist nicht nur Diskurs, sondern auch Spiel“, so der Autor. Diese Spielfreude überträgt sich während der Lesung. Nach den ersten Minuten der panischen Anspannung lehne ich mich beruhigt zurück. Die Schauspieler:innen lesen den leicht gekürzten Text mit viel Begeisterung, schmunzeln, gehen aufeinander ein. Mit großer Erleichterung stelle ich fest: der Text klingt! Er entfaltet einen ganz eigenen Rhythmus, während er das Publikum von Pointe zu Pointe, von Szene zu Szene mit sich reißt. Anfängliches Glucksen im Publikum („Wir sind hier beim Stückemarkt. Darf hier überhaupt gelacht werden?“) steigert sich schnell in schallendes Lachen. Die Gags sitzen. Die stillen Momente haben Gravitas. Das Publikum lässt sich darauf ein. Schräg vor mir sitzt Leo. Ich merke in seiner Körperhaltung, wie er sich langsam entspannt – wie ein Stein von seinem Herzen fällt. Nach 40 Minuten ist alles vorbei. Die „zwei Herren“ standen zum ersten Mal auf den Brettern, die die Welt bedeuten. Bald werden sie in Oberhausen zu sehen sein.

 

„ich bitte alle beteiligten, zärtlich im umgang mit diesem stück zu sein“, schreibt Leo Meier am Anfang seines Stücks. Zeit für Zärtlichkeit – im Umgang mit sich und dem Theater. Eine Schreibhaltung, die im weiteren Verlauf des Wettbewerbs immer wieder in Diskussionen aufgegriffen wurde, und die auch Falk Schreiber in seinem Resümee des gesamten Festivals prominent hervorhebt. „zwei herren von real madrid“ ist eine zarte Geschichte mit zarten Menschen, die sich nicht immer nur anschreien. Gibt es einen Text, den es aktuell dringender braucht?


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