Guido Wertheimer

Eine Karte der Geister in einem stillen Land

Eine Karte der Geister in einem stillen Land(c) Ana Iramain

Nie wieder. Anlässlich des 85. Jahrestags der Pogrome gegen jüdische Bürger:innen in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938, hat Autor und Regisseur Guido Wertheimer einen Text für das Staatstheater Braunschweig verfasst: „Ich schreibe und meine Hände zittern. Denn wenn man den Versuch unternimmt, kann man von diesem stillen Land aus dem Klang des Feuers in der Ferne hören.“ Den vollständigen Abdruck finden Sie hier.


Eine Karte der Geister in einem stillen Land

1.
Ich weiß nicht, was ich an dem Tag erwartete hatte, als ich im Januar 2020 zum ersten Mal in Berlin ankam. Natürlich wusste ich, dass in den Grundfesten dieser Stadt eine lange Geschichte von Geistern liegt und dass viele von ihnen auch Teil von mir sind. Jeder Enkel eines Juden, der in den späten 30er Jahren nach Südamerika geflüchtet ist, weiß das. Ich wusste aber auch, dass diese Geschichte über Berlin hinausgeht und sich weit über Deutschland und Europa erstreckt. Trotzdem hatten unsere deutschen, polnischen, ungarischen, russischen, litauischen oder österreichischen Großeltern für uns keine dieser Nationalitäten. Für uns waren sie einfach unsere jüdischen Großeltern. Ich wusste, dass sie die schlimmsten Gräueltaten miterlebt hatten, aber ich wusste auch, dass ich nicht zu viele Fragen stellen sollte, denn es gibt Wunden, die an Abenden, an denen wir Kneidelaj-Suppe aßen, die Oma mit so viel Liebe zubereitet hatte, nicht wieder aufgerissen werden mussten. Und wenn sie beim Nachtisch doch genug Kraft hatten, um sich wieder zu erinnern, reichte das nie aus, um darüber nachzudenken, was jetzt - damals, in den frühen 2000er Jahren- in dem Land geschah, das sie vor mehr als einem halben Jahrhundert hinter sich gelassen hatten.

 

Deshalb wusste ich wenig, als ich ankam. Besser gesagt: Ich wusste nichts. Nicht, dass die Geister an diesem Ort immer noch so präsent sind. Heute Abend. Da. Nicht, dass sie so groß und so sichtbar sind, dass sie im November in jeder Stadt der Bundesrepublik immer noch durch die Straßen gehen. Jetzt weiß ich es: Von Rostock über Halle bis nach Hanau und natürlich immer wieder zurück in die ruinierte Hauptstadt, die Geister sind unter uns. Ich wusste es nicht, weil ich mich nicht damit auskannte, oder weil ich mich nicht eingehend damit befasst hatte, oder weil die geografische Entfernung Abgründe schafft. Weil mir nie jemand davon erzählt hatte. Deutschland war also ein wirtschaftliches Vorbild, ein Ort, an den ich auf Grund meines roten Passes ziehen konnte, um zu studieren oder zu arbeiten.

 

Weniger als einen Monat nach meiner Ankunft ermordete ein weißer Mann, dessen Nachname zum Glück für die meisten meiner Freunde in der lateinamerikanischen Diaspora in Berlin sehr schwer auszusprechen ist, neun Menschen in Hanau. Es war in einer sehr kalten Nacht, genauso kalt wie die Nacht, in der ich dies schreibe. Ich hörte die Nachrichten im Radio in einem kleinen Zimmer, das ich für die ersten Wochen von einer anderen Argentinierin gemietet hatte. Die WG lag ein paar Blocks von der Sonnenallee entfernt, in Neukölln. Aber ich wusste weder, was Neukölln war, noch habe ich je von Hanau gehört. Ich kannte auch den Begriff Migrationshintergrund nicht, mit dem der Deutschlandfunk-Sprecher die neun Ermordeten in der Shisha-Bar beschrieb. Es ist seltsam, dass ich es nicht wusste, seltsam, dass ich Jahre brauchte, um zu begreifen, was das alles bedeutet. Aber um den lokalen Geist zu verstehen, muss man ihn benenn können. Um genau zu wissen, wie man ihn benennt, musste ich ihn erst einmal hören, live und direkt, ohne Verzögerung, in einem staatlichen Radiosender.

 

Und jetzt? Welchen Namen sollen wir dem Gespenst geben, das in diesen Tagen vom Nahen Osten bis in jedes Haus in diesem stillen und widersprüchlichen Land spukt? Antisemitismus oder Genozid? Leugnung, oder Blut, oder Folter, oder Vergewaltigung, oder Bomben? Man sollte eigentlich nicht oder sagen. Der richtige Begriff ist und. So viele Worte können wir diesem Geist geben. Angst, unbedingt. Ich nenne ihn Angst. Angst, weil ich nie wieder Kneidelaj-Suppe essen kann, ohne daran zu denken, dass es meiner Großmutter Eva das Herz brechen würde, wenn sie wüsste, was heutzutage in der Welt passiert. Dieselbe Welt, der sie beschloss, zu verzeihen. Dasselbe Herz, das brach, als sie am 24. Oktober 1938, sechzehn Tage vor dem Terror, Berlin verließ. Ich würde nicht wissen, wie ich sie anrufen und ihr erklären sollte, dass die Angst wieder da ist, dass die Geister zurück sind. Oder vielmehr, dass die Geister nie weg waren.

 

2.
Fast vier Jahre seit jenem Januar, an dem ich in Neukölln gelandet bin, arbeite ich nun mit ihnen. Ich arbeite mit den guten Geistern und den bösen Geistern, wenn ich sie so bezeichnen kann. Ende November werden wir Wir werden diese Nacht nicht sterben am Staatstheater Braunschweig uraufführen und nächstes Jahr den zweiten Teil der gleichen Trilogie am Theater Münster. Ich nehme an, dass das Schreiben von Stücken, in denen die Geister der Vergangenheit auf die Geister der Gegenwart treffen, eine Möglichkeit ist, die Übel dieser Zeit zu bekämpfen. Ich zeichne eine Karte der Geister in einem stillen Land. Ich jage sie in Dokumenten, Fotos, Videos, in ihren Gedanken und ihrer Genetik. Sie senden mir immer wieder Botschaften. Das mag esoterisch klingen und in gewisser Weise ist es das auch. Es handelt sich um keine wissenschaftliche oder akademische Forschung. Eine Karte der Geister in einem stillen Land ist nicht wirklich das.

 

Im August kam ich während einer Recherchephase ins Staatsarchiv in Münster. Philipp Erdmann, einer der Historiker dort, füllt meinen Schreibtisch mit Ordnern der NS-Ordnungspolizei und einigen Dokumenten oder Memoiren von jüdischen Familien, die in der Region lebten, bevor sie flohen oder ermordet wurden. Ich werde Jahre brauchen, um alles zu lesen. Zum Glück gibt Philipp eine Empfehlung: Du solltest hier anfangen, sagt er und drückte mir ein Manuskript in die Hand. Das ist ein Bericht von Fritz Steinthal, der wie deine Großeltern in Berlin geboren wurde, sagt der junge Historiker mit einer so deutlichen und ruhigen Stimme, als ob er mehr über meine Familie wüsste als ich. Steinthal war von 1919 bis 1939 Rabbiner in Münster. Das Manuskript beschreibt detailliert, was er in der Progromnacht vom 09.11 in dieser westdeutschen Stadt erlebt hat:

 

Am Abend waren Herr und Frau Fritz Feibes zu Besuch. Kaum hatten wir uns nach ihrem Fortgehen zur Ruhe begeben, da rief Frau F. in großer Besorgnis bei uns an, sie hätten die Scheiben ihres Kaufhauses mit antijüdischen Inschriften beschmiert vorgefunden, ihr Mann sei hinuntergegangen, um die Schmierereien zu beseitigen, käme aber nicht wieder, während die Menge der Menschen vor ihrem Hause wachse. Auf einen Anruf bei der Polizei erklärte mir der Polizeihauptmann Eisele, er habe leider keine Leute zur Verfügung, um sie zu schicken. Frau F. rief wieder an, die Leute hätten die Haustür erbrochen und kämen die Treppe herauf. Zum zweiten Male rief ich die Polizei an und fragte, ob man ermordet werden müsse, damit das Überfall-Kommando käme. Herr Hauptmann erklärte mir wiederum sein Bedauern darüber, daß er alle seine Leute auf der Straße habe und darum niemanden zu senden in der Lage sei. Darauf meldete sich in höchster Verzweiflung Frau F. zum dritten Mal, es röche nach Rauch, man habe anscheinend das Haus angesteckt. Ich setzte mich mit der Feuerwehr in Verbindung und erhielt zur Antwort: "Nein, die Synagoge brennt." Auf diesen Bescheid hin machte ich mich fertig, um zur Synagoge zu gehen. Aber so weit kam es nicht.

 

Das alles scheint Teil eines fiebrigen Alptraums von vor 85 Jahren zu sein, aber Steinthal schreibt so sachlich, dass man seinen Körper darin wiedererkennen kann:

 

Aufgeregt und abgehetzt kam Herr Feibes, der nur durch seine sportlichen Fähigkeiten und durch die Kenntnis der Straßen und Gassen, die er als alter Münsteraner besaß, den ihn verfolgenden Burschen entkommen war. Etliche Autos fuhren vor, beleuchteten mit ihren Scheinwerfern das Haus und setzten ihren Weg fort. Das bedeutete jedoch nur ein kurzes Aufatmen. Andere Autos folgten, Motorradfahrer, Menschen zu Fuß. Im Augenblick waren alle zur Straße - Am Kanonengraben - gehenden Fenster unserer Wohnung durchschossen. Eine Kugel war Herrn Feibes ins Knie gegangen. Mit Eisenstangen erbrach die Menge die schwere Haustür aus Eichenholz und strömte ins Gebäude. Herrn F. gab ich, damit er sich in Sicherheit bringen könne, den Schlüssel zu einer Seitentür; ich selbst ging mit meiner Frau in den Bodenraum. Dort hörten (wir), wie die Eindringlinge wie die Vandalen hausten. Etwas sahen war, als wir hinuntergingen; die eigentlichen Schäden konnten wir erst später feststellen. Büfett, Anrichte, Küchenschrank waren umgeworfen, so daß das darin befindliche Porzellan, Kristall, Glas zerbrechen mußten; Bilder, Sofa, Sessel zerschnitten, Möbel mit Stemmeisen u. dergl. ruiniert; Silber, Bücher gestohlen und zum Teil aus dem Fenster geworfen, Geld aus dem Schreibtisch geraubt; Türen eingeschlagen und zerbrochen. Wir auf dem Boden rechneten mit unserem Ende, waren aber seelisch ruhig und ausgeglichen in dem uns beseligenden Bewußtsein, daß unsere beiden Kinder im Ausland, also gerettet waren.

 

Alles ist dokumentiert. Alles wird irgendwo aufgeschrieben. Allzu oft sind die Täter, die die Geschichte später schreiben. Auch in diesem Sinne haben sie die Macht. Sie zündeten die Synagoge der Stadt an. SS-Polizisten fotografierten sich neben den Überresten des riesigen jüdischen Tempels als politischen und ideologischen Triumph. Viele der Polizisten lächeln: Eine Szene, die als Ende und Anfang dieses Horrorfilms stehen könnte. Es ist ein langer Bericht und es lohnt sich, ihn in seiner Gesamtheit zu lesen, um sich an diese Nacht des Schreckens zu erinnern. Es lohnt sich auch zu lesen, wie Steinthal das deutsche Volk für das Geschehene anklagt:

Wie hat sich das deutsche Volk damals verhalten? fragt er in einer Handschrift, die ich nicht richtig entziffern kann. Man wird kaum bestreiten, dass die ganz überwiegende Mehrheit sowie sie nicht aktiv mitgemacht, doch stillschweigend zugeschaut hat, erklärt der Rabbiner. Man muss das Schweigen genauso fürchten wie den Krieg. Dies ist die Botschaft von Steinthals Bericht: Es gibt Zeiten, in denen man das Schweigen ganz vermeiden sollte.

 

3.
Wie meine Großeltern wanderte auch Steinthal nach Buenos Aires aus und gründete eine Synagoge im Norden der Stadt. Fritz Steinthal war der erste deutsche Rabbiner in Argentinien, und er war es auch, der meine Großeltern Eva und Rolf 1952 in seiner eigenen Synagoge traute. Als ich das entdecke, erzähle ich dem jungen Historiker davon. Wir sind beide total schockiert. Der Weg ins Exil hat sie alle in einem Tempel zusammengebracht, in einer kleinen Straße, in einer möglichen Zuflucht in einer Stadt am Ende der Welt. Dann geht Phillipp zurück in sein Büro und ich tauche weiter ein in die Geister der Vergangenheit.

 

Es ist nun schon zu viele Jahre her, seit Steinthal es auf sich genommen hat, diese deutsche Nacht auf Papier zu bringen. Die Lektion scheint doch nicht ganz klar zu sein: Wir müssen in diesem Land Angst vor dem Schweigen haben. Der Geist des Schweigens ist überall zu spüren. Von Rostock über Halle bis nach Hanau und zurück in die ruinierte Hauptstadt, wo die Eskalation der Gewalt in diesen Tagen zunimmt. Wo die Polizei in den Straßen von Neukölln Zeichen des Schmerzes auslöscht, wo es verboten ist, Kerzen anzuzünden, um die Toten von Palästina zu betrauern. Wo die jüdische Gemeinde wieder einmal Angst hat. Angst haben muss. Im öffentlichen Diskurs scheint alles entweder dies oder das zu sein. Aber jetzt scheint es, dass der richtige Begriff und ist. Angst und Angst und Angst und Angst. Ich schreibe und meine Hände zittern. Denn wenn man den Versuch unternimmt, kann man von diesem stillen Land aus dem Klang des Feuers in der Ferne hören.

 

Es sind diese guten Geister, die darum bitten, dass das Feuer aufhört, die darum bitten, dass kein Tod mehr auf dem Gewissen der Lebenden lasten soll. Sie rufen dazu auf, das Schweigen so schnell wie möglich zu brechen. Ein für alle Mal.

 

*Der Text wurde im Rahmen der Lesung zur Erinnerung an den 9. November 1938 am Staatstheater Braunschweig und am Theater Münster gelesen. Guido Wertheimer ist derzeit Hausautor am Theater Münster und setzt sich intensiv mit der Exilgeschichte jüdischer Familien in Münster auseinander. Sein Debütstück wir werden diese nacht nicht sterben wurde in der Spielzeit 2023/2024 erfolgreich am Staatstheater Braunschweig uraufgeführt. 


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